1. SRG-Trendumfrage zur Abstimmung vom 25. September 2022

Zu Beginn der Hauptkampagnenphase:

Massentierhaltungsinitiative - knappe Mehrheit dafür
Zusatzfinanzierung AHV - Mehrheit dafür
AHV 21 - Mehrheit dafür
Verrechnungssteuergesetz - relative Mehrheit dafür

Studie im Auftrag der SRG SSR

Wäre bereits am 8. August 2022 abgestimmt worden, wären die Massentierhaltungsinitiative und die beiden Vorlagen der AHV-Reform angenommen worden. Das Verrechnungssteuergesetz hätte lediglich relativmehrheitliche Zustimmung erfahren. Die Stimmbeteiligung hätte bei leicht unterdurchschnittlichen 45 Prozent gelegen.

Hier liegt eine Momentaufnahme rund sieben Wochen vor dem Abstimmungstag vor und nicht eine Prognose. Die Studie beschreibt die Ausgangslage zu Beginn der Hauptkampagnenphase.

Alle Angaben gelten bei einer 95-prozentigen Wahrscheinlichkeit mit einem Unsicherheitsbereich von ±2.8 Prozentpunkten. Der Abstimmungskampf und die Meinungsbildung setzen erst ein und können bei Volksabstimmungen nachweislich das Ja/Nein-Verhältnis beeinflussen. Hinzu kommen Effekte aus der noch unbekannten Mobilisierung durch die Kampagnen.

Die Befunde der Umfrage werden anhand des Dispositionsansatzes von gfs.bern theoretisch verortet.

Hier finden sich Hintergrundinformationen zu den Vorlagen der September-Abstimmung und hier zur Methode der SRG-Trendumfragen.

Ausserdem können Sie hier eine vollständige Grafiksammlung herunterladen.

Massentierhaltungsinitiative

Gegenwärtige Stimmabsichten im Ja

Anfang August 2022 hätte die Massentierhaltungsinitiative die Hürde des Volksmehrs knapp genommen. 51 Prozent der Teilnahmewilligen bekundeten eine Ja-Stimmabsicht, 46 Prozent wollten dagegen stimmen. Die Zustimmungsneigung ist etwas tiefer als bei der ersten Befragung zu den argrarpolitischen Initiativen über die am 13. Juni 2021 abgestimmt wurde. In der Umfrage von April 2021 erreichte die Initiative für ein Pestizidverbot noch ein Verhältnis von 55 Prozent Ja- zu 32 Nein-Stimmabsichten. Am Schluss resultierte jedoch eine Ablehnung mit nur noch 39.4 Prozent Ja-Anteil.

Die Erwartungshaltungen der teilnahmewilligen Stimmberechtigten sind vielleicht gerade angesichts der Debatte vom Vorjahr kritischer als die Stimmabsichten. 71 Prozent erwarten ein Nein am 25. September 2022. Im Mittel wird der Ja-Anteil auf 49 Prozent geschätzt. Ein Nein zeichnet sich damit aus Sicht vieler Befragter ab.

Mittlerer Stand der Meinungsbildung

33 Prozent sprechen sich bestimmt für die Initiative und 32 Prozent dagegen aus. Diese 65 Prozent sprechen schon für eine einigermassen vorbestimmte Abstimmung. Mehr als die Hälfte der Stimmabsichten lassen sich auch mit den Argumenten gut nachvollziehen, so dass der Stand der Meinungsbildung insgesamt als mittel fortgeschritten bezeichnet werden kann.

Mehrere Gräben beim Konfliktmuster: Stadt-Land, Geschlecht und Schicht spielen mit

 

Die politische Polarisierung zwischen links und rechts fällt erwartungsgemäss sehr deutlich aus. Während Anhängerschaften der Grünen und der SP und selbst der GLP mehrheitlich für die Initiative stimmen wollen, fällt sie in der Ausgangslage bei Mehrheiten der Anhängerschaften der Mitte, der FDP und der SVP durch. Parteiungebundene hegen zurzeit mehrheitlich Sympathien für das Anliegen, wobei die Meinungsbildung bei dieser Gruppe, die am Schluss oft genau auf finanzielle Auswirkungen einer Vorlage schaut, noch nicht sehr weit fortgeschritten ist.

Erwähnenswert sind aber bisher noch klar feststellbare weitere Gräben: So wollen 60 Prozent der Frauen, aber nur 41 Prozent der Männer die Massentierhaltungsinitiative annehmen. Vergleichbar stark wie der Geschlechtergraben fällt auch der Stadt-Land-Graben aus. Während in grossen Agglomerationen

57 Prozent zustimmen wollen, erreicht die Initiative auf dem Land bereits in der Ausgangslage mit 40 Prozent Zustimmung keine Mehrheit. In der Agglomeration überschreitet die Initiative mit 52 Prozent die Mehrheitshürde knapp. Schliesslich ist auch das Haushaltseinkommen eine relevante Konfliktlinie. Je mehr finanzielle Mittel im Haushalt zur Verfügung stehen, desto kritischer sind die Befragten.

Nach Sprachregionen differenziert, ist die Zustimmungsneigung in der italienischsprachigen Schweiz erhöht, während sich die Ausgangslage in der deutsch- und französischsprachigen Schweiz sehr vergleichbar zur Gesamtschweiz präsentiert. Die sprachlichen Unterschiede waren zu Beginn der Meinungsbildung zur Pestizidinitiative fast identisch. Das Schlussresultat in der italienischsprachigen Schweiz fiel jedoch am Schluss gleich kritisch aus wie in den anderen Sprachregionen.

Wenig ausgeprägt fallen die Unterschiede bei den Stimmabsichten zur Massentierhaltungsinitiative nach Regierungsvertrauen und nach Alter aus.

Argumente: Wirksame Argumente polarisieren

 

Inhaltlich präsentiert sich die Ausgangslage zur Massentierhaltungsinitiative kritischer als bei den Stimmabsichten und auch kritischer, wenn man dies mit der Ausgangslage bei der Pestizidinitiative vergleicht: Indexiert stehen 50 Prozent der Teilnahmewilligen der Gegnerschaft argumentativ näher und 46 Prozent der Befürworterschaft: Bei der Pestizidinitiative waren sechs Wochen vor der Abstimmungen 38 Prozent dem Ja-Lager näher und 34 Prozent dem Nein-Lager.

Im Umfeld aller Parteiwählerschaften liegt dabei die argumentative Unterstützung zur Massentierhaltungsinitiative leicht unter dem Niveau der geäusserten Stimmabsichten. Allerdings ist die inhaltliche Situation im Detail auch polarisierter als bei der Pestizidinitiative. Die beiden wirksamsten Argumente zur Erklärung der Stimmabsichten erreichen nicht sehr hohe Zustimmungswerte, wenn man jeweils die Anteile der Personen mit bestimmter

Teilnahmeabsicht addiert, die sich voll oder eher mit einem Argument einverstanden erklären: Auf der Nein-Seite wirkt der Verweis auf den strengen Status quo beim heute geltenden Tierschutzgesetz. Es ist insgesamt das wirksamste Argument, überzeugt aber nur 54 Prozent. Die Gegenseite punktet mit den unter aktuellen Regelungen immer noch möglichen Einschnitten in das Wohlbefinden und die Würde der Tiere. 50 Prozent schliessen sich dieser für die Ja-Seite wirksamsten Argumentation an. Auch die weiteren wirksamen Argumente teilen die Stimmberechtigten mit Teilnahmeabsicht in ähnlich grosse Lager: Auf der Ja-Seite der Verweis auf eine zukunftsfähige Landwirtschaft dank der Einschränkungen bei der Massentierhaltung (46 % Unterstützung) und auf der Nein-Seite der Verweis auf das ausreichende Angebot dank Labels (57 % Unterstützung). Die beiden Argumente mit der grössten Überzeugungskraft sind bisher die am wenigsten wirksamen. Der Verweis auf Gefährdung von Mensch und Tier durch negative Auswirkungen der Massentierhaltung auf der Ja-Seite (67 % Unterstützung) sowie der Verweis auf Mehrkosten in der Produktion zulasten der Konsumierenden (81 % Unterstützung).

Trend in der Meinungsbildung

 

Typologisch handelt es sich bei der Initiative um eine knapp positiv prädisponierte Vorlage. Das Bild dreht aber, wenn man Erwartungshaltungen und die inhaltlichen Haltungen berücksichtigt. Dabei hilft der Vergleich mit den agrarpolitischen Vorlagen, die am 13. Juni 2021 zur Abstimmung gelangten. Die Stimmabsichten waren in der Ausgangslage deutlicher für die Initiativen, das inhaltliche Bild viel offener als aktuell. Die Meinungsbildung zur Initiative gegen Massentierhaltung ist weiter fortgeschritten und präsentiert sich polarisierter als im Vorjahr. Das ist insofern bemerkenswert, als die Massentierhaltungsinitiative bisher wenig Medienpräsenz erfuhr.

Im Normalfall der Meinungsbildung zu einer Initiative gleichen sich die Stimmabsichten der Stimmbürger:innen über den Kampagnenverlauf an die Empfehlungen von Bundesrat und Parlament an. Tritt dieser Normalfall ein, wird die Massentierhaltungsinitiative am 25. September 2022 abgelehnt. Ein so deutlicher Nein-Trend wie bei den agrarpolitischen Vorlagen wäre jedoch angesichts der eher fortgeschrittenen

Meinungsbildung eine Überraschung. Die beiden Vorlagen erreichten damals weniger als 40 Prozent Ja-Anteile.

Nur wenn der Problemdruck sehr hoch ausfällt oder die Mobilisierung (wegen anderer Vorlagen) einseitig zugunsten der Initiative ausfallen würde, wäre eine Überraschung beim Volksmehr denkbar. In solchen Ausnahmefällen halten sich die Ja-Anteile oder steigern sich mobilisierungsbedingt sogar etwas. Inhaltlich würde sich die Debatte in diesem Fall viel stärker um Probleme der Massentierhaltung drehen, während preisliche Folgen einer Verschärfung weiter im Hintergrund bleiben. Auch das wäre untypisch und gegenteilig zur Erfahrung bei der Debatte um die agrarpolitischen Initiativen. Sehr hoch erscheint unabhängig vom Debattenverlauf die Hürde für die Initiative beim Ständemehr. Zwar lassen sich nicht für alle Kantone ausreichend sichere Aussagen machen, weil die Schwankungsbreiten sehr hoch sind. Dennoch fallen im Detail in vielen ländlich geprägten Kantonen der deutschsprachigen und der französischsprachigen Schweiz die Urteile bereits mehrheitlich kritisch aus. Verschärft sich im Kampagnenverlauf erwartungsgemäss die Polarisierung zwischen Stadt und Land, dürften die konservativen Kantone der deutschsprachigen Schweiz geschlossen als Nein-Stimmen dazukommen.

AHV-Reform

Die AHV-Reform umfasst zwei Vorlagen: den Bundesbeschluss über die Zusatzfinanzierung der AHV durch eine Erhöhung der Mehrwertsteuer und die Änderung des Bundesgesetzes über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV-21). Die beiden Vorlagen sind miteinander verknüpft; wenn eine der beiden abgelehnt wird, scheitert die ganze Reform. Der Fokus wird im Folgenden auf die Änderung des Bundesgesetzes über die Alters- und Hinterlassenenversicherung gelegt. Die Vorlage zur Mehrwertsteuer wird nur diskutiert, wenn sich relevante Abweichungen zeigen. Die Grafiken dazu sind in der verlinkten Grafiksammlung in der Einleitung zu finden.

Gegenwärtige Stimmabsichten im Ja

Beide Vorlagen der AHV-Reform wären am 8. August 2022 angenommen worden. 64 Prozent der Stimmberechtigten mit fester Teilnahmeabsicht hätten für die AHV 21 gestimmt, 33 Prozent dagegen. Der Erhöhung der Mehrwertsteuer hätten 65 Prozent zugestimmt, 29 Prozent hätten sie abgelehnt. Das verschafft der Ja-Seite in der Ausgangslage einen Vorsprung von 31 respektive 36 Prozentpunkten.

Die Erwartung einer Mehrheit der Teilnahmewilligen ist, dass beide Vorlagen an der Urne angenommen werden (56% resp. 55% schätzen den Ja-Anteil für die Abstimmung auf über 50%). Der erwartete Abstimmungsausgang ist allerdings weitaus knapper, als es die geäusserten Stimmabsichten vermuten liessen. Im Mittel wird der Ja-Anteil für beide Vorlagen auf 50 Prozent geschätzt.

Mittlerer bis fortgeschrittener Stand der Meinungsbildung

60 Prozent der Teilnahmewilligen äussern in dieser frühen Phase des Abstimmungskampfes feste Stimmabsichten zur AHV 21, nur 3 Prozent zeigen sich noch unentschlossen. Bei der Erhöhung der Mehrwertsteuer zugunsten der AHV sind 51 Prozent fest entschieden und 6 Prozent unentschlossen. Deutlich erkennbar ist auch die argumentative Abstützung der Stimmentscheide (Erklärungsgrad der Regression: 62%).

Insgesamt entspricht dies einem mittleren bis fortgeschrittenen Stand der Meinungsbildung. Mit Veränderungen darf dennoch gerechnet werden, denn wir stehen erst am Anfang des Meinungsbildungsprozesses.

Vorläufiges Konfliktmuster: Im Vordergrund stehen Parteiaffinitäten

Die parteipolitische Polarisierung ist bereits gut erkennbar, wobei die Parteiwählerschaften weitgehend auf Seiten der (erwarteten) Position ihrer Mutterpartei stehen. Ausnahme hiervon bilden Sympathisant:innen der Grünen, welche sich in der Ausgangslage knapp für die AHV-21 aussprechen. Vom rechten politischen Pol bis hin zur GLP ist die Zustimmung zur AHV-21 jedoch solid. Auch Parteiungebundene sind mehrheitlich im Ja. Anders SP-affine Teilnahmewillige: Sie äussern sich mehrheitlich gegen die Änderung des Bundesgesetzes über die Alters- und Hinterlassenenversicherung.

Das Bild ist beim Bundesbeschluss über die Zusatzfinanzierung der AHV durch eine Erhöhung der Mehrwertsteuer leicht anders, denn hier stimmen alle Parteiwählerschaften mehrheitlich zu, die SVP und Parteiungebundene jedoch am wenigsten deutlich. Abweichende Haltungen von Parteieliten und der Basis existieren im Umfeld linker Parteien. Es ist zu erwarten, dass der Zuspruch zur Reform in diesem Umfeld über den Kampagnenverlauf noch sinken wird.

In der Ausgangslage finden sich ausserhalb der SP-Affinen keine weiteren ablehnenden Untergruppen, aber deutliche

Geschlechterunterschiede und sprachregionale Prägungen. So gaben 74 Prozent der Männer aber nur 52 Prozent der Frauen an, für die AHV-21 stimmen zu wollen. Bei der Erhöhung der Mehrwertsteuer aber ist der Unterschied weitaus geringer (Männer 68%, Frauen 64% eher/bestimmt dafür).

Die Zustimmung von deutschsprachigen Teilnahmewilligen ist höher als jene aus der französisch- oder italienischsprachigen Schweiz. Mehrheitlich ist sie aber in allen drei Landesteilen. Während jedoch beide Vorlagen in der Deutschschweiz ähnlich hohe Zustimmung erfahren, erhält die AHV-21 in der französisch- und italienischsprachigen Schweiz weniger Zustimmung als die Vorlage zur Mehrwertsteuererhöhung.

Nach Alter betrachtet, stimmen Pensionierte am deutlichsten für die beiden Vorlagen. Zwar hätten auch Teilnahmewillige unter 40 Jahren Anfang August beide Vorlagen angenommen, sie wären aber bei der Mehrwertsteuererhöhung die verhaltenste Gruppe gewesen. Teilnahmewillige zwischen 40 und 64 Jahren äusserten sich bei der AHV-21-Vorlage am wenigsten deutlich dafür.

Die Zustimmung zu beiden Vorlagen steigt ausserdem mit der Schulbildung und dem Haushaltseinkommen an und ist bei Teilnahmewilligen mit Misstrauen in die Regierung weniger hoch als bei Vertrauenden.

Argumente: keine Rentenaltererhöhung ohne gleichen Lohn vs. kein Grund warum Frauen früher pensioniert werden

Indexiert man die Haltungen zu den Argumenten stehen 54 Prozent den Befürworter:innen näher und 41 Prozent den Gegner:innen. 5 Prozent sind indifferent. Diese Werte bewegen sich zwar unterhalb der festgehaltenen Stimmabsichten, bestätigen aber den Vorteil der Befürworterschaft in der Ausgangslage. Relativiert wird er allerdings durch die Regressionsanalyse, denn wirksamstes Argument für einen Stimmentscheid zur AHV-Reform ist ein gegnerisches.

Hohe 64 Prozent stimmen zu, dass die AHV-Reform die Solidarität zwischen den Generationen erhöhe, da mit der höheren Mehrwertsteuer auch Pensionierte weiterhin ihren Beitrag zur Altersvorsorge leisten. 62 Prozent finden, es gebe keinen Grund, weshalb Frauen früher pensioniert werden sollen als Männer. Diese Aussage spaltet die Frauen (48%:47%), während Männer weitgehend damit einverstanden sind (73% eher/sehr einverstanden). Weiter finden es 54 Prozent ungerecht, die AHV auf Kosten der nächsten Generation

finanziell auszuhöhlen. Und 54 Prozent stimmen zu, dass die Reform die AHV sichere, ohne dass Renten gekürzt werden müssten.

Die Contra-Seite findet mehrheitliche Zustimmung, wenn sie argumentiert, die Flexibilisierung des Rentenalters sei ein Schwindel, weil sich faktisch nur Gutverdienende eine Frühpensionierung leisten können (63% eher/sehr einverstanden). 52 Prozent pflichten bei, dass die AHV-Reform Tür und Tor für weitere Erhöhungen des Rentenalters öffne. Dann aber gehen die Meinungen zu den Contra-Argumenten stark auseinander. So sind je 48 Prozent einverstanden respektive nicht einverstanden mit der Aussage, dass eine Rentenaltererhöhung für Frauen nicht in Frage komme, solange Frauen weiterhin für die gleiche Arbeit weniger Lohn erhielten. Es handelt sich hierbei um das aktuell wirksamste Argument für einen Stimmentscheid. Männer lehnen diese Aussage mehrheitlich ab (64% eher/überhaupt nicht einverstanden), Frauen stimmen ihr mehrheitlich zu (63% eher/sehr einverstanden). Und zu guter Letzt beurteilen 41 Prozent der Teilnahmewilligen die Reform als ungerecht, weil über die Mehrwertsteuer alle mehr zahlen würden, während gleichzeitig Leistungen gekürzt würden.

Trend in der Meinungsbildung

Zwar spalten die Details der Reform die Gemüter, und es ist eine Polarisierung der Stimmabsichten entlang parteipolitischer Bindungen zu erkennen, aber alles in allem erweist sich die Zustimmung als relativ breit – ausserhalb der SP lehnt in der Ausgangslage keine Untergruppe die Vorlagen ab.

Contra-Argumente haben allerdings ein hohes Gewicht beim Stimmentscheid und die Zustimmung gemessen an argumentativen Haltungen bei allen Wählerschaften tiefer, als jene gemessen an Stimmabsichten. Entsprechend ist davon auszugehen, dass die nun folgende Hauptkampagnenphase das hier festgehaltene, frühe Meinungsbild noch beeinflussen kann.

Aufgrund des Vorsprungs der Ja-Seite, der breiten Zustimmung und der argumentativen Haltungen scheint die Annahme der

Reform wahrscheinlicher als ihre Ablehnung. Ohne Kenntnis der Dynamik der Meinungsbildung über den Kampagnenverlauf hinweg sind Prognosen hinsichtlich des Abstimmungsausgangs jedoch wenig gesichert.

Im Normalfall der Meinungsbildung zu einer Behördenvorlage gleichen sich die Stimmabsichten der Stimmbürger:innen über den Kampagnenverlauf an die Empfehlungen von Bundesrat und Parlament an. Tritt dieser Normalfall ein, wird die AHV-Reform am 25. September 2022 deutlich angenommen.

Anzeichen für ein Ausnahmeszenario, wo sich die Ablehnung über den Kampagnenverlauf aufbaut, finden sich in den argumentativen Haltungen und den Einschätzungen der Stimmberechtigten zum Abstimmungsausgang. Eine Umkehr der Mehrheitsverhältnisse wäre aber selbst in diesem Fall eine Überraschung. Die Gegnerschaft müsste dazu im weiteren Kampagnenverlauf argumentativ deutlich die Oberhand gewinnen und stark mobilisieren.

Verrechnungssteuergesetz

Gegenwärtige Stimmabsichten schwach positiv prädisponiert

Anfang August hätten 49 Prozent für die Änderung des Verrechnungssteuergesetzes gestimmt und 35 Prozent dagegen. Für den Befragungszeitpunkt vergleichsweise hohe 16 Prozent der Stimmberechtigten mit fester Teilnahmeabsicht waren noch unentschieden.

Eine Mehrheit der Teilnahmewilligen schätzt den Ja-Anteil für die Abstimmung vom 25. September 2022 auf über 50 Prozent ein. Im Mittel wird er 2022 auf 50 Prozent geschätzt. Die Teilnahmewilligen gehen insofern von einer Annahme der Vorlage aus.

Tiefer Stand der Meinungsbildung

Die frühen Stimmabsichten sind mit Argumenten zwar gut erklärbar, was den Spielraum für den Einfluss der Hauptkampagne auf Unentschiedene oder Personen mit wenig gefestigter Meinung reduziert. Diese stellen bei dieser Vorlage allerdings eine Mehrheit.

Erst 44 Prozent haben eine feste Meinung zum Verrechnungssteuergesetz und hohe 16 Prozent sind noch gänzlich unentschieden. Entsprechend haben wir es mit einem tiefen Stand der Meinungsbildung zu tun, und es ist über den Kampagnenverlauf mit Bewegung in den Stimmabsichten zu rechnen.

Vorläufiges Konfliktmuster: starke politische Prägung

Der Stimmentscheid über die Änderung des Verrechnungssteuergesetzes verläuft in erster Linie entlang der Parteilinien, wobei die Zustimmung von links nach rechts zunimmt. Grüne- und SP-affine Teilnahmewillige hätten die Vorlage Anfang August mehrheitlich verworfen, alle anderen Wählergruppen hätten sie (minimal relativmehrheitlich) angenommen. Die Wähler:innen folgen somit den Parolen ihrer präferierten Parteien weitgehend, und es zeichnen sich bisher keine Elite-Basis-Konflikte ab.

Neben der Parteisympathie ist das Haushaltseinkommen für einen Stimmentscheid massgebend: Je höher das Einkommen, desto höher fällt die Zustimmung zur Änderung des Verrechnungssteuergesetzes aus. Und ausserhalb der linken Wählerschaften lehnen einzig Teilnahmewillige mit

Haushaltseinkommen zwischen 3-5000 Franken die Vorlage (relativ-)mehrheitlich ab.

Die weiteren signifikanten Unterschiede erklären sich weniger über unterschiedliche Mehrheiten, sondern vielmehr über unterschiedlichen Stand der Meinungsbildung. So äussern sich beispielsweise Frauen und Junge weniger deutlich für die Vorlage als Männer und über 40-Jährige, nicht aber weil sie kritischer gegenüber der Vorlage eingestellt sind, sondern schlichtweg weil sie in hohem Masse (noch) unentschieden sind.

Regional betrachtet, steigt die Kritik an der Vorlage zwar vom Land hin zu den Städten an, bleibt aber in allen Siedlungsarten minderheitlich. Und das verhaltene Ja zur Änderung des Verrechnungssteuergesetzes fällt auch dreisprachig aus. Zu erkennen ist aber deutlich, dass der Stand der Meinungsbildung in der französisch- und italienischsprachigen Schweiz zurückbleibt.

Argumente: Steuerreform sichert Arbeitsplätze vs. erleichtert Steuerkriminalität

Sechs Argumente wurden direkt zur Vorlage formuliert, wobei es nur wenige Argumente gibt, bei denen die Zustimmung (oder Ablehnung) besonders deutlich ausfällt. Wertet man die Haltungen zu den sechs Argumenten zusammengefasst aus, entsteht ein Eindruck dessen, was der Abstimmungskampf noch bringen könnte. Indexiert stehen nämlich 48 Prozent der Teilnahmewilligen den Argumenten der Gegnerschaft näher, 41 Prozent jenen der Befürworterschaft und 11 Prozent sind indifferent. Die argumentative Zustimmung liegt somit unter der faktischen gemessen an Stimmabsichten, weil Contra-Argumente breiter Anklang finden als solche der Pro-Seite.

Mehrheitlicher Konsens liegt bei den Stimmberechtigten jedoch nur bei zwei Argumenten vor: 60 Prozent stimmen zu, dass es ungerecht sei, dass Unternehmen entlastet werden und Normalbürger:innen dafür bezahlen müssen. 52 Prozent sind einverstanden, dass die Steuerreform wieder Unternehmen entlaste und am Ende nur noch Lohn, Rente und Konsum

besteuert würden. 41 Prozent finden zudem, dass der Abbau der Verrechnungssteuer Steuerkriminalität erleichtere und Schlupflöcher für Unehrliche schaffe.

Die Wirkungsanalyse der Argumente zeigt, dass die frühe Meinungsbildung dennoch stark von der Befürworter:innen-Seite geprägt ist. Die drei wirksamsten Argumente stammen alle aus dem Pro-Lager, jedoch wird keines von einer absoluten Mehrheit unterstützt. Das wirksamste Argument dafür ist, dass die Steuerreform Arbeitsplätze in der Schweiz schaffe und sichere, wovon auch die AHV und die IV profitieren würden (47% eher/voll einverstanden). Zweitstärkstes Argument ist gemäss Wirkungsanalyse, dass die Steuerreform zwar kurzfristig koste, aber bereits in wenigen Jahren zu höheren Steuereinnahmen führe (44% eher/voll einverstanden). 44 Prozent gehen zudem mit der Befürworterschaft einig, dass die Steuerreform Steuergeschenke von der Schweiz ans Ausland stoppe.

Mit der Beurteilung dieser sechs Argumente können 54 Prozent der Ja- und der Nein-Stimmen erklärt werden. Das ist ein mittlerer Wert für die aktuelle Phase der Kampagne.

 

Trend in der Meinungsbildung

Ohne Kenntnis der Dynamik der Meinungsbildung muss der Abstimmungsausgang für den 25. September 2022 offengelassen werden. Die Stimmabsichten und die Haltungen zu den Argumenten sprechen insgesamt für eine ambivalente und wenig gefestigte Ausgangslage.

Im Normalfall verläuft die Meinungsbildung zu einer Behördenvorlage in Richtung der Position von Bundesrat und Parlament: Ein Teil der (tendenziell) Befürwortenden sowie

Unentschiedene neigen am Schluss des Meinungsbildungsprozesses eher dem Ja zu. Tritt dieser Fall ein, wird die Vorlage angenommen.

Da die Vorlage jedoch aus einer Minderheitsposition in den Abstimmungskampf startet, hat sie eine herausfordernde Ausgangslage. Zudem ist gemäss der argumentativen Beurteilung Kritik relativ weit verbreitet und durch vergangene Abstimmungen aus demselben Themenbereich bereits aktiviert. Ein argumentativer Überhang der Contra-Seite zeichnet sich in dieser frühen Phase bereits ab. Verstärkt sich dieser über den Kampagnenverlauf, kann am 25. September 2022 auch ein Nein resultieren.

Teilnahmeabsichten

Durchschnittliche Teilnahmeabsicht für die Abstimmung vom 25. September 2022

Die bisher gemessene Beteiligungsbereitschaft für den 25. September 2022 lag gegen Mitte

August 2022 mit 45 Prozent etwa im langjährigen Durchschnitt (46% zwischen 2011 und 2020). Eine aussergewöhnlich hohe Mobilisierung, wie sie sich bei den vier Abstimmungen im Jahr 2021 zeigte, zeichnet sich jedoch nicht ab.

 

Profil der Beteiligungswilligen

Seit 2022 beobachten wir eine eher erwartungsgemässe Struktur der Mobilisierung: Üblicherweise nehmen Ältere, besser Gebildete, politisch an ein Lager gebundene und Regierungsvertrauende mit höherer Wahrscheinlichkeit teil. Sofern die Debatte nicht noch breitere Kreise erfasst, dürfte das Muster der Teilnahme am 25. September 2022 ebenfalls dem entsprechen. Bemerkenswert ist die tiefe Mobilisierung der Frauen (40 % im Vergleich zu 50 % bei den Männern). In der Regel gleicht sich das noch aus. Da Frauen besonders stark von der AHV-Vorlage betroffen sind, dürfte die finale Mobilisierung (deutlich) höher ausfallen als zurzeit. Noch lassen sich auch sonst wenig spezielle Effekte der Debatten und Kampagnen erkennen. Namentlich bestehen bisher keine Anzeichen einer besonders hohen Mobilisierung in konservativen und ländlichen Gegenden, wie dies bei den Abstimmungen vom 13. Juni 2021 wegen der agrarpolitischen Initiativen geschah. Die Anhängerschaft der SVP (33 %),

Parteiungebundene (36 %) und Personen, die auf dem Land leben (42 %) sind weniger zur Teilnahme motiviert als die jeweiligen Vergleichsgruppen.

Erneut unüblich ist die Teilnahmebereitschaft im Vergleich der deutschsprachigen und der französischsprachigen Schweiz. Die Teilnahmeabsicht ist in der französischsprachigen Schweiz mit 48 Prozent höher als in der deutschsprachigen Schweiz mit 44 Prozent. Die Debatten in der französischsprachigen Schweiz haben etwas mehr erkennbares Profil: früh formiert ist die Kritik gegen die Massentierhaltungsinitiative und gegen die AHV-Reform in der französischsprachigen Schweiz.

Insgesamt ist eine Polarisierung der Debatte mit zusätzlichen Mobilisierungseffekten in verschiedenen Gruppen zu erwarten. Diese Gruppen dürften aber offen für linke und rechte Argumente bei den verschiedenen Vorlagen sein. Damit könnte die Teilnahme über 50 Prozent steigen. Noch zeichnet sich aber keine aussergewöhnliche Mobilisierung mit Werten über 60 Prozent ab.

Zitierweise

Erste Welle der SRG-SSR-Trendbefragung zu den Volksabstimmungen vom 25. September 2022 vom Forschungsinstitut gfs.bern. Realisiert zwischen dem 29. Juli und dem 15. August 2022 bei 12’015 Stimmberechtigten. Der statistische Fehlerbereich beträgt +/-2.8 Prozentpunkte.

Methode und Datengrundlage

Der telefonische Teil der vorliegenden Befragung wurde vom gfs-Befragungsdienst realisiert, die Auswertung und Analyse der Daten nahm das Forschungsinstitut gfs.bern vor.

Befragt wurde via eines RDD-Dualframe-Verfahrens per Festnetz und Handy. Seit dem Herbst 2018 wird im Rahmen des SRG-Trend-Mandats die telefonische Umfrage durch eine Online-Befragung ergänzt, mit dem Ziel die Stichprobengrösse in der französisch- und italienischsprachigen Schweiz zu erhöhen. Der Online-Teil wurde als Opt-in-Befragung (Mitmachbefragung) über die Webportale der SRG SSR Medien realisiert.

Um sprachregionale Aussagen machen zu können, haben wir die Sprachminderheiten in der CATI-Befragung überproportional berücksichtigt. Diese wurden, um nationale Aussagen machen zu können, wieder ins richtige Verhältnis gebracht.

Keine Aussagen können wir über das Ständemehr machen, denn die Fallzahl lässt gesicherte Rückschlüsse auf die Kantone nicht zu.

Weiterführende Informationen zur Theorie und der Methode der SRG-Trendumfragen finden sich hier.

Technischer Kurzbericht

Auftraggeber: CR-Konferenz der SRG SSR
Grundgesamtheit: Stimmberechtigte Schweizer:innen
Herkunft der Adressen CATI: Stichprobenplan Gabler/Häder für RDD/Dual-Frame; Verwendung Swiss-Interview-Liste,
Herkunft der Adressen Online: Opt-in-Befragung über die Webportale der SRG SSR
Datenerhebung: telefonisch, computergestützt (CATI) und Online
Art der Stichprobenziehung CATI: at random/Geburtstagsmethode im Haushalt geschichtet nach Sprachregionen
Art der Stichprobenziehung Online: offene Mitmachumfrage
Befragungszeitraum: 29. Juli – 15. August 2022
mittlerer Befragungstag: 8. August 2022
Stichprobengrösse: minimal 1’200, effektiv 12’015 (Cati: 1’206, Online: 10’809), n DCH: 9’597, n FCH: 2’035, n ICH: 383
Stichprobenfehler: ± 2.8 Prozentpunkte bei einem Wert von 50% (und 95%iger Wahrscheinlichkeit)
Quotenmerkmale CATI: Geschlecht/Alter interlocked
Quotenmerkmale Online: keine
Gewichtung: Dual-Frame-Gewichtung, Sprache, Siedlungsart, Parteiaffinität, Recall, Teilnahme
mittlere Befragungsdauer CATI: 15.5 Minuten (Standardabweichung: 3.7 Minuten)
Publikation: 19. August 2022, 6h00