Der Dispositionsansatz

Forschungskonzept zur Meinungsbildung bei Abstimmungen

gfs.bern

Der Dispositionsansatz von gfs.bern bildet einen sinnvollen Rahmen, mit dem Umfragedaten zum Entscheidungsprozess analysiert, eingebettet und interpretiert werden können. Dabei steht nicht die punktgenaue Prognose des Abstimmungsergebnisses im Vordergrund, sondern die Systematik dynamischer Meinungsverläufe unter Einwirkung des Abstimmungskampfes.

Bei Wahlen bildet die Parteibindung die relevante Grundhaltung dafür, wie man sich entscheidet. Sie bestimmt in einem hohen Masse, wie man Parteien, Kandidierende, Wahlkampfthemen und Stimmungslagen wahrnimmt. Eine solche Vereinfachung ist bei Volksabstimmungen nicht möglich. Dafür variiert die Themenbreite der Vorlagen zu stark.

Die Allianzen der Parteien wechseln und Abstimmungskämpfe sind weniger standardisiert als Wahlkämpfe. Statt auf einer einfachen Parteibindung aufzubauen, stützt sich die Abstimmungsforschung daher vorzugsweise auf Prädispositionen. Konkret handelt es sich dabei um Elemente der individuellen Meinungsbildung, die gegeben sind, bevor ein konkreter Prozess der Entscheidungsfindung einsetzt. Die Meinungsbildung steht nämlich weder ein für alle Mal fest, noch beginnt sie jedes Mal bei null.

Forschungskonzpet

Die Kombination von Prädisposition und Dynamik erlaubt eine Typologie der Meinungsbildung bei Abstimmungen.

gfs.bern hat das Forschungskonzept zur Meinungsbildung bei Abstimmungen im Dispositionsansatz zusammengefasst. In der ursprünglichen Form wurde der Dispositionsansatz 1998 entwickelt und seither laufend an neuste wissenschaftliche Erkenntnisse und Standards angepasst. Aufgrund seiner praktischen Anwendungen wird er immer aufs neue überprüft. Er bildet einen sinnvollen Rahmen, mit dem Umfragedaten zum Entscheidungsprozess analysiert, eingebettet und interpretiert werden können. Dabei steht nicht die Prognose des Abstimmungsergebnisses im Sinne der Punktgenauigkeit im Vordergrund, sondern es geht vielmehr darum, eine gesicherte Systematik zu Meinungsverläufen unter Einwirkung des Abstimmungskampfes zu entwickeln.

Grundsätzliche These des Dispositionsansatzes:
Abstimmungsergebnisse stehen nicht ein für alle Mal fest, vielmehr werden sie durch Prädispositionen und Abstimmungskämpfe beeinflusst. Die wiederum folgen der Meinungsbildung in der politischen und medialen Elite respektive dem allgemeinen politischen Klima. Die Entscheidung selbst hängt von der Vorlage und dem Vorlagentyp ab; zuerst zeichnen sich Stimmabsichten und ein Konfliktmuster unter Teilnahmewilligen ab, dann folgt die Entscheidung.

Hypothese 1: Je stärker eindeutige Prädispositionen für frühe Stimmabsichten relevant sind, desto eher gehen wir von einer vorbestimmten Entscheidung aus.

Hypothese 2: Je eindeutiger Botschaften der Kampagnen Stimmabsichten bestimmen, die sich im Abstimmungskampf verfestigen, desto eher liegt eine eindeutig bestimmbare Entscheidung vor.

Wenn beide Bedingungen gegeben sind, kann man von einem geringen Veränderungspotenzial vor der finalen Entscheidung ausgehen. In diesem Fall sind anhand von Vorumfragen punktgenaue Aussagen zum Abstimmungsausgang denkbar. Ohne dass beides gegeben ist, sind punktgenaue Prognose mit Sicherheit und wahrscheinlich auch Vorhersagen im quantitativen Sinne nicht machbar.

Qualitative Aussagen können dennoch gemacht werden. Denn es ist möglich, relevante Prädispositionen für eine Abstimmung zu ermitteln und Umfragen hierzu zu Rate zu ziehen. Wirken sie alle in die gleiche Richtung und sind sie mehrheitlich verteilt, sprechen wir von einer gerichteten Prädisposition. Sind sie mehrheitlich verteilt, aber nicht eindeutig gerichtet, gehen wir von einer bloss labilen Prädisposition aus. Kennen sie schliesslich keine eindeutige Richtung, sprechen wir von einer nicht prädisponierten Entscheidung.

Aus der Kombination von Prädisposition und Dynamik leitet sich unsere Typologie der Meinungsbildung ab. Sie unterscheidet grundsätzlich zwischen vorbestimmten Entscheidungen ohne Meinungswandel, wobei das Ergebnis der Prädisposition entspricht, respektive mit Meinungswandel, wobei es zu einem von der Prädisposition abweichenden Abstimmungsentscheid kommen kann. Bei nicht vorbestimmten Entscheidungen ist einzig massgeblich, ob es zu einem klar gerichteten Meinungsaufbau oder Meinungswandel kommt, um den Ausgang theoretisch zu bestimmen.

Schema Dispositionsansatz

Prädispositionen, Dynamik der Meinungsbildung und Prädisponiertheit

Allgemeine und themenspezifische Prädispositionen

Thematische Prädispositionen

  • Betroffenheit/Interessenlagen
  • gut erinnerte, prinzipielle Sachentscheidungen bei vergleichbaren Themen
  • Alltagserfahrungen mit dem Abstimmungsthema

Allgemeine Prädispositionen

  • weltanschauliche Beurteilung eines Themas
  • Parteiidentifikation/Parteiparolen
  • Regierungsvertrauen beziehungsweise -misstrauen
  • (Un-)Zufriedenheit mit dem Status Quo

In der Abstimmungsforschung werden Prädispositionen auch Heuristiken genannt. Die dabei übliche Dreiteilung in Heuristiken des Status quo, des Vertrauens beziehungsweise des Misstrauens und der Partei ergänzen wir mit der Weltanschauungsheuristik. Letztere hilft dabei, ein Abstimmungsthema einzuordnen, selbst wenn man sich damit nicht sachlich auseinandersetzen kann oder will. Die Art, wie man die Welt sieht und interpretiert, kann sogar quer zu Parteibindungen stehen.

Den thematischen Prädispositionen ist eigen, dass sie eine direkte Beschäftigung mit der Vorlage voraussetzen. Am konkretesten sind Entscheidungen aufgrund von Betroffenheit und Interessenlage. Sie entsprechend weitgehend dem, was man in der Literatur als „rational choice“ bezeichnet: Entscheidungen werden aufgrund von Kosten-Nutzen-Analysen getroffen.

Dynamik der Meinungsbildung und Prädisponiertheit

Was die Dynamik angeht, unterscheiden wir generell:

  • Meinungsaufbau (Unentschiedenheit weicht der Entschiedenheit)
  • Meinungswandel (Vorentschiedenheit wird umgekehrt)
  • Meinungsverstärkung (Vorentschiedenheit wird verstärkt)

Grundsätzlich kann man diese Frage auf kollektiver und/oder individueller Basis entscheiden. In unseren Überlegungen hierzu gehen wir generell von der kollektiven Meinungsbildung aus. Analysen auf individueller Basis könnten letztlich nur mit Panel-Daten geklärt werden. Rückerinnerungsfragen sind ein Ansatz, mit der Problematik umzugehen, sind aber ihrerseits nicht unproblematisch, denn sie setzen eine ungefilterte Rückerinnerung voraus.

Das Mass an kollektiver Vorbestimmtheit von Volksabstimmungen bezeichnen wir als Prädisponiertheit. Voraussetzungen hierfür sind relevante Prädispositionen respektive die Art und Weise, wie Abstimmungskampagnen diese Prädispositionen mobilisieren, verstärken oder verändern können. Insgesamt gilt, dass die Prädisponiertheit von Abstimmungen geringer ist als diejenige von Wahlen, insbesondere von Parteiwahlen. Deshalb unterscheiden sich die Ansätze der Abstimmungsforschung auch von jenen der Wahlforschung. Sie müssen zwingend von einer komplexeren Meinungsbildung ausgehen.

Instrumentarium des Dispositionsansatzes

Der Dispositionsansatz stützt sich empirisch nicht nur auf die Sonntagsfrage(-n) zu den Stimm- und Teilnahmeabsichten, wie das beispielsweise die Vorschriften des Verbandes der Markt- und Sozialforschung minimal verlangen, sondern berücksichtigt auch weitere Einstellungsfragen.

Bei Trendumfragen vor Abstimmungen sind dies normalerweise der Argumentetest und das Konfliktmuster, wie es bei den Stimm- und Teilnahmeabsichten zum Ausdruck kommt. Sie werden verwendet, um die Ausgangslage und Möglichkeiten von Kampagnen im Abstimmungskampf zu bestimmen und damit das Potenzial von Veränderungen auszuloten.

Thesen zur Meinungsbildung in Abstimmungskämpfen

These Meinungsbildung zu Referenden

Bei Referenden findet mit dem behördlichen Willensbildungsprozess eine Konsens- oder Mehrheitssuche statt, die Vorschläge, die der Volksabstimmung unterliegen, einmittet. In der Regel entsteht daraus eine prädisponierte Entscheidung, vereinfachend gesagt im Sinne aller Parteien und zwar sowohl der rechten als auch der linken politischen Organisationen.

Im Normalfall erwarten wir, dass sich die Meinungsbildung unter den Stimmwilligen der Mehrheitsposition aus der parlamentarischen Willensbildung angleicht. Im abweichenden Fall kommt es zu einer Protestentscheidung, wonach die behördliche Willensbildung im Abstimmungskampf nicht hält oder zerfällt. In diesem Fall wird ein abweichender Volksentscheid gefällt.

Letztlich erwarten wir das Gleiche bei Volksinitiativen, wenn auch mit umgekehrten Vorzeichen. Relevant ist hier, dass Volksinitiativen in aller Regel Vorschläge unterbreiten, die parlamentarisch nicht mehrheitsfähig sind, das heisst aus einer klar linken oder rechten Position starten, respektive von einer unpolitischen Mitte aus lanciert sind.

These Meinungsbildung Initiativen

Wir erwarten auch hier, dass sich im Abstimmungskampf die Meinungsbildung der behördlichen Position angleicht. Wenn es sich von Beginn an um Minderheitsanliegen handelt, scheitern sie im Normalfall zwangsläufig in der Volksabstimmung.

Wenn sie anfänglich mehrheitlich sind, sprechen wir von einer potenziellen Mehrheitsinitiative, bei welcher der Abstimmungskampf entscheidet, in aller Regel zuungunsten der Vorlage.

Die abweichenden Fälle treten auch hier auf, wenn sich die Meinungsbildung im Abstimmungskampf weg von der Behördenposition entwickelt, sei es, dass eine anfängliche Mehrheit bestehen bleibt, oder noch seltener, dass sie erst mit dem Abstimmungskampf entsteht.

Anwendung Dispositionsansatz auf Behördenvorlagen

Zu Behördenvorlagen zählen obligatorische sowie fakultative Referenden und Gegenvorschläge zu Volksinitiativen. Ihnen ist eigen, dass sie vom Parlament mehrheitlich abgesegnet worden sind. Sämtliche Verfassungsänderungen gelangen als obligatorische Referenden automatisch vor das Stimmvolk. Gesetzesvorlagen hingegen kommen nur dann zur Abstimmung, wenn 50’000 Bürger*innen dies verlangen. In solchen Fällen (fakultatives Referendum) ist mit einer organisierten Opposition zu rechnen, während dies bei obligatorischen Referenden nicht zwingend der Fall sein muss (Ausnahme: gleichzeitige Abstimmung zu Volksinitiative und Gegenvorschlag).

Die Ausgangslagen sind vielfältig:

  • wenn sich eine Behördenvorlage auf einen eigentlichen Präkonsens stützen kann, ist die Zustimmung zu Beginn der Meinungsbildung ausgeprägt positiv.
  • wenn eine Behördenvorlage im Parlament mehrheitlich zustande gekommen ist, handelt es sich in aller Regel um eine positive oder nur nicht vorbestimmte Vorlage. Im ersten Fall führt das Ja vor dem Nein und hat eine Mehrheit, was bei nicht vorbestimmten Vorlagen nicht gegeben ist.
  • negativ prädisponierten Fällen ist eigen, dass die Meinungsbildung mit einer ablehnenden Mehrheit beginnt.

Bei Trends unterscheiden wir zwei Entwicklungen: den Meinungsaufbau, wobei sich Ja und Nein gleich gerichtet bewegen, während sich die Unschlüssigen bei einer Polarisierung auf beide Seiten verteilen. Stark positiv vorbestimmte Vorlagen werden in aller Regel angenommen. Das gilt ebenso für ausgesprochen negativ vorbestimmte Entscheidungen, wenn auch im umgekehrten Sinn.

Wir behandeln solche eindeutigen Fälle hier nicht weiter. Von Belang sind aber alle übrigen Fälle, die wir unter zwei verschiedenen Szenarien betrachten:

Szenario 1: Normalfall

Von einem Normalszenario sprechen wir dann, wenn die Zustimmung während des Abstimmungskampfes zunimmt.

Dieser Fall kann bei einem Meinungsaufbau oder bei einer Polarisierung eintreten, und zwar unabhängig davon, ob es sich bei der Ausgangslage um einen positiv-prädisponierten oder nicht prädisponierten Fall gehandelt hat, denn die Meinungsbildung entwickelt sich in allen Kombinationen in Richtung Behördenstandpunkt.

Es folgen diese drei wichtigsten Dynamiken schematisch dargestellt.

Szenario 2: Ausnahmefall

Von einem abweichenden Szenario reden wir dann, wenn die Zustimmungsbereitschaft mit dem Abstimmungskampf abnimmt.

In solchen Fällen handelt es sich entweder um eine Polarisierung zum Nein oder um einen Meinungsaufbau zum Nein.

Die Ausgangslage kann auch hier unbestimmt oder schwach positiv sein.

Zur Veranschaulichung finden sich hier sämtliche Behördenvorlagen seit 2008 nach dieser Typologie eingeteilt.

Anwendung Dispositionsansatz auf Volksinitiativen

Fast allen Volksinitiativen ist gemeinsam, dass ihre Forderungen von Regierung und Parlament nach der Behandlung abgelehnt oder zu Gegenvorschlägen umformuliert (und somit zu Behördenvorlagen) werden. Dieser Umstand wirkt sich wiederum auf die meinungsbildenden Eliten aus. Das unterscheidet Meinungsbildungsprozesse zu Volksinitiativen von solchen zu Behördenvorlagen grundlegend.

Volksinitiativen beinhalten in der Regel einen Sachverhalt, der in der Öffentlichkeit bereits behandelt worden ist. Ohne substanzielles Problembewusstsein ist es schwierig, im vorgeschriebenen Zeitrahmen genügend Unterschriften für das Zustandekommen einer Initiative zu sammeln. Das heisst indes nicht, dass die von einer Initiative vorgeschlagene Problemlösung im gleichen Masse bekannt sein muss, ausser dies wird allein durch ihren Titel klar. Entsprechend muss bei der Meinungsbildung zwischen dem Problem und seiner spezifischen Behebung durch die Initiative unterschieden werden. Wir postulieren hier generell, dass das Problembewusstsein erfolgreicher Initiativen prädisponiert ist, nicht aber die Lösungspräferenz, da sich diese erst im Verlaufe eines Meinungsbildungsprozesses auf die Entscheidungsabsichten auswirkt.

Ausgangslage:

Sie wird für eine Volksinitiative durch das Mass des Problembewusstseins in der Öffentlichkeit bestimmt. Je problematischer eine Situation eingeschätzt wird, desto eher findet sich vor einer Kampagne eine Zustimmungsbereitschaft zur entsprechenden Initiative. Je weniger dringlich ein Problem beurteilt wird, desto eher liegt eine offene, allenfalls sogar negativ vorbestimmte Ausgangslage vor.

Generelle Hypothesen

  • Der Nein-Anteil nimmt mit der Dauer des Abstimmungskampfes zu.
  • Der Ja-Anteil nimmt mit der Dauer des Abstimmungskampfes ab.

Damit ist nur etwas über die Richtung ausgesagt, nicht aber über das Ausmass der Veränderung. Dieses hängt davon ab, wie stark die Prädisponierung ist, (vor allem der Ja-Seite) respektive wie viele Teilnahmewillige unentschieden sind und wie wirksam die Kampagnen auf solche Unsicherheiten eingehen. Dabei ist bekannt, dass die Schwachstellenkommunikation zum Lösungsvorschlag die effektivste ist, sprich am ehesten Unschlüssige und latent Befürwortende zu Gegnerschaft werden lässt.

Das Ausmass des Meinungswandels in ein Nein ist schwer vorhersehbar: Je ausgeprägter das Problembewusstsein generell ist, desto schwächer fällt der Meinungswandel aus. Eine rein mechanische Betrachtung führt indessen nicht zum Ziel; eine dynamische Analyse ist nötig, die beispielsweise konkrete Kampagnenaktivitäten einbezieht.

In der Realität ist ein Rückgang des Ja-Anteils (fast) immer zu beobachten. Das Ausmass dieses Rückgangs variiert allerdings zwischen 2 und 43 Prozent. Das Mittel seit 2008 beträgt rund 10 Prozent. Grösser ist der Umschwung auf der Nein-Seite: Im Schnitt beträgt er rund 25 Prozent.

Eine eindeutige Regel dazu, wie gross der zu erwartende Anteil der Veränderung in den Stimmabsichten ist, gibt es nicht. Am ehesten kann geltend gemacht werden, dass der Prozentsatz „eher befürwortender“ Bürger*innen ein brauchbarer Prädiktor ist. Allerdings kennen wir zwei Typen von Veränderungen: Beim einen schmilzt der ganze Anteil der Befürwortenden weg, beim anderen Typus hingegen nur weniger als die Hälfte. Zum ersten Typus kommt es, wenn das Anliegen selbst sehr ansprechend wirkt und so vorerst viel Zustimmung generiert, während die darauffolgende Kritik am Inhalt der Vorlage dann zur Erosion der Unterstützung führt. Der zweite Typus hingegen hat verschiedene Ursachen, unter anderem diejenige, dass die Zustimmung von Beginn an gering ist und sich während der Kampagnen auch nicht viel daran ändert.

Der Meinungsbildungsprozess zu Initiativen kann in vier idealtypischen Szenarien festgehalten werden:

Szenario 1:

Bei mehrheitlich positiv prädisponierter Mehrheit in der Ausgangslage, geringer Opposition zum Lösungsvorschlag oder sehr hohem Problemdruck nimmt Nein zu, bleibt Ja (fast) stabil, sodass die Vorlage (in der Regel) angenommen wird.

Ein typisches Beispiel hierfür ist die Abzocker-Initiative.

Szenario 2:

Bei mehrheitlich positiv prädisponierter Mehrheit in der Ausgangslage, beschränkt hohem Problemdruck und Opposition zum Lösungsvorschlag nimmt der Nein-Anteil zu, während der Ja-Anteil abnimmt. Die Vorlage wird abgelehnt, ausser wenn der prädisponierte Ja-Anteil über 50 Prozent liegt.

Ein typisches Beispiel für eine so angenommene Volksinitiative ist das Verbot des Zweitwohnungsbaus, während die Familieninitiativen von SVP und CVP Exempel für abgelehnte Volksbegehren sind.

Szenario 3:

Bei minderheitlich positiv prädisponierter Mehrheit in der Ausgangslage nimmt der Nein-Anteil zu, während der Ja-Anteil abnimmt. Die Vorlage wird abgelehnt.

Typisches Beispiel hierfür ist die Energie- statt Mehrwertsteuer-Initiative.

Szenario 4:

In Ausnahmefällen kann das dritte Szenario ausbleiben. Das ist nach unserer Auffassung dann der Fall, wenn es mit der Initiativentscheidung zu einem Tabubruch kommt, mit dem sich eine Proteststimmung aufbaut. So ist es möglich, dass sich die Zusammensetzung der Teilnahmewilligen zugunsten der Initiative ändert oder ein kurzfristiger Meinungswandel im Sinne des Zeichensetzens entsteht. Nach unserer Erfahrung ist dieses Szenario sehr selten; es muss sich aufgrund der Beteiligungsabsichten, die im Abstimmungskampf stark steigen müssen, andeuten und im Argumentetest sichtbar werden, indem Gegnerschaft und Unschlüssige vermehrt Ja-Botschaften zustimmen. In der Regel wird dafür eine doppelte Öffentlichkeit benötigt. Das bedeutet, dass Mainstream-Medien gegen die Initiative sind, Zielgruppenmedien aber eine verbreitete Zustimmung erahnen lassen. Unter diesen Bedingungen tritt der vierte und unten postulierte Verlauf ein: Hier hinkt die Darstellung allerdings etwas, da die Beteiligungsabsichten asymmetrisch zunehmen.

Der typische Fall eines solchen Szenarios ist die Masseneinwanderungsinitiative.

Zur Veranschaulichung finden sich hier sämtliche Initiativen seit 2008 nach dieser Typologie eingeteilt.

Anwendung auf Stimmbeteiligung

Die Auswirkungen der Abstimmungskämpfe auf die Mobilisierung respektive auf die Verteilung der Stimmabsichten wurden bisher nur wenig beachtet. Das ist dem Umstand geschuldet, dass die Identifizierung von Zusammenhängen angesichts einer rasch wechselnden Zahl an Vorlagen und Themen nicht ganz einfach ist.

Wir halten fest, dass die Auffassung, die Beteiligungshöhe hänge nur vom Abstimmungskampf ab, widerlegt ist. Vielmehr gilt, dass es einen Sockel routinemässig teilnehmender Bürger*innen sowie einen Anteil der Bevölkerung gibt, der sich in Abhängigkeit vom Klima, von der Konfliktsituation und der eigenen Meinungsbildung beteiligt. Zudem halten wir fest, dass die mittlere Beteiligung an Volksabstimmungen zwischen 2011 und 2020 bei 46 Prozent lag (Bundesamt für Statistik). Stimmbeteiligungen zwischen 40 und 50 Prozent zeigen meist keine relevanten Veränderungen in der Zusammensetzung des Elektorates. Fällt die Beteiligung jedoch höher aus, nimmt vor allem der Anteil der wenig politischen Bürger*innen zu und die Chancen populistisch geprägter Entscheidungen steigen. Bei geringeren Teilnahmewerten beteiligen sich die Bürger*innen mit starkem Interesse an der Politik vergleichsweise mehr, sodass die Chancen auf kurzfristige Veränderungen sinken.

Die Zunahme der Beteiligung(-sabsicht) hängt davon ab, ob es eine Vorlage gibt, die klar mobilisiert. Hinzu kommt, dass Abstimmungstermine mit mehreren Abstimmungsthemen eher mehr Zusatzbeteiligung auslösen als solche mit nur einer Vorlage. Hauptgrund dafür ist, dass die Beteiligung dann über den Sockel hinaus vorlagenspezifischer ausfallen kann. Verwiesen sei aber darauf, dass die Beteiligungswerte für die einzelnen Vorlagen nicht unbedingt identisch sein müssen. Mit anderen Worten: Zwischen der Beteiligung an sich und der Stimmabgabe zu den einzelnen Vorlagen kommt es zu einer immer stärkeren Differenzierung.

Vereinfachend halten wir hier den Mobilisierungsfall als Regelbeispiel fest. Dabei nimmt die Stimmbeteiligung während des Abstimmungskampfes im Mittel um 5 Prozentpunkte zu. Alle anderen Fälle sind Ausnahmen.

Zitierweise

Dispositionsansatz vom Forschungsinstitut gfs.bern.