Hohe Versorgungsqualität in einem neuen Normalzustand

Zunahme administrativer Aufgaben in der Rehabilitation, lange Wartezeiten in der Psychiatrie

Studie im Auftrag der FMH

Im Auftrag der FMH führt gfs.bern seit 2011 eine repräsentative Befragung bei der Spital-ärzteschaft im akutsomatischen Bereich, in der Rehabilitation und Psychiatrie sowie bei praxisambulant tätigen Ärztinnen und Ärzten durch. Das Ziel dieser Studie ist es, die Rahmenbedingungen für die ärztliche Tätigkeit in der Schweiz systematisch zu erheben und zu analysieren.

Die zentralen Themen dieser Befragung sind die Corona-Pandemie, die Arbeitsumstände und die Arbeitszufriedenheit der Ärzteschaft sowie der Einfluss laufender Reformen. Die Untersuchungsergebnisse sollen der Politik und den Partnern im Gesundheitswesen erlauben, Entscheidungen basierend auf einer verbesserten Datengrundlage zu fällen. Zudem sollen Bedürfnisse frühzeitig erkannt werden, damit entsprechende Massnahmen ergriffen werden können.

Bei der diesjährigen Befragung haben insgesamt 1’547 Schweizer Ärztinnen und Ärzte teilgenommen. Darunter wurden 1’080 akutsomatische Spitalärztinnen und -ärzte, 81 in psychiatrischen Kliniken tätige Ärztinnen und Ärzte sowie 47 Ärztinnen und Ärzte, welche in Rehabilitationskliniken tätig sind, befragt. Hinzu kommen 339 praxisambulante Ärztinnen und Ärzte. Gesamthaft hat die Beteiligung im Vergleich zum letzten Jahr leicht abgenommen. Während die akutsomatischen Spitalärzt:innen sich leicht häufiger an der aktuellen Befragung beteiligten, nahm die Anzahl teilnehmender Ärzt:innen im Bereich Psychiatrie und Rehabilitation ab. Es nahmen auch etwas weniger praxisambulant tätige Ärztinnen und Ärzte teil.

Neben den langjährigen Indikatoren greift die Befragung jedes Jahr ein aktuelles Schwerpunktthema auf. Wie in der letztjährigen Befragung standen erneut Themen wie das Arbeitsumfeld, die Entwicklung des administrativen Aufwands, die Behandlungsfreiheit oder auch ambulant vor stationär im Zentrum. Ein expliziter Fokus liegt aufgrund der fortbestehenden Aktualität auf dem Themenbereich der Corona-Pandemie. Gewisse Fragen wurden so abgeändert, dass man über die Zustände aller fünf bis zum Befragungszeitpunkt festgestellten Wellen abfragt, während beim letzten Monitor Bezug zum Lockdown (zweiten und dritten Welle) genommen wurde. Die Befragung fand vom 5. Mai bis 16. Juni 2022 statt.

Der vorliegende Kurzbericht gibt einen Einblick in die zentralen Resultate der Befragungswelle 2022. Einige Grafiken sind dabei interaktiv gestaltet und können auch auf Social Media geteilt werden.

Weitere Details zur Befragungsmethode finden sich in der Infobox am Ende des Kurzberichts.

Arbeitsumfeld und Tätigkeiten im Arbeitsalltag

Zum ersten Mal seit vielen Jahren sinkt 2022 die durchschnittliche Anzahl Minuten, die Ärzt:innen in der Akutsomatik jeden Tag mit Dokumentationsarbeiten im Zusammenhang mit dem Patientendossier verbringen. Während die verbrachte Zeit mit dem Patientendossier 2022 sinkt, sind die Minutenzahlen für organisatorische Arbeiten oder andere administrative Tätigkeiten jedoch angestiegen. Auch ist zum zweiten Mal in Folge ein Anstieg in der Zeit zu beobachten, die Ärzt:innen mit medizinischen Patientennahmen Tätigkeiten verbringen.

In der Psychiatrie, wie auch in der Rehabilitation nehmen Arbeiten ohne Bezug zu Patiententätigkeiten im Vergleich zu 2021 zu. In der Rehabilitation ist ausserdem augenscheinlich, dass zusätzlich insgesamt eine erhöhte Minutenzahl bei verschiedenen Tätigkeiten zu beobachten ist: So etwa bei den medizinischen und patientennahen Tätigkeiten, bei den Dokumentationsarbeiten rund um das Patientendossier (Einführung ST Reha ab Januar 2022) sowie bei Rapporten und Fallbesprechungen.

Was sich bereits im letzten Jahr teilweise angekündigt hat, akzentuiert sich 2022 zuweilen noch weiter: In der Wahrnehmung der Befragten nahm der Einfluss der vorgesetzten Ärzt:innen im Vergleich zu 2021 nochmals deutlich ab.

Stattdessen stieg der Einfluss der Krankenkassen, Verwaltung der jeweiligen Klinik/Abteilung und der Pflegedienstleitung deutlich.

Während die Zusammenarbeit zwischen Akutsomatik und anderen Ärzt:innen oder Akteuren des Gesundheitswesens über die Jahre als weitgehend gleich gut (oder schlecht) beurteilt wird, scheint sich der Austausch mit den niedergelassenen Ärzt:innen in den letzten 12 Monaten stark verbessert zu haben und erreicht nun in der Bewertung einen neuen Höchstwert.

Auch die Zusammenarbeit mit den psychiatrischen Einrichtungen schätzen die Akutsomatiker:innen deutlich besser ein als im Vorjahr.

 

Die letzten Jahre scheinen zudem die Ärzt:innen der Akutsomatik wie auch der Rehabilitation darin bestärkt zu haben, ihre Zukunft als im Spital tätige Ärzt:innen zu planen.

In der Psychiatrie ist genau das Gegenheil der Fall. Dort sieht man sich vermehrt als selbstständige praxisambulant tätige Ärzt:innen.

Im Vergleich zum letzten Jahr sind in der Akutsomatik deutlich mehr Nachfragen von Krankenkassen zu Abrechnungen zu verzeichnen und die Befragten berichten so häufig wie seit 2014 nicht mehr von verzögerten Überweisungen in die Rehabilitations-Kliniken. So häufig wie noch nie seit 2011 geben die befragten Akutsomatiker:innen an, die Entscheidung, ob eine Behandlung spitalambulant oder stationär erfolgt, sei nicht aus medizinischen Gründen gefallen.

In der Rehabilitation beobachten Ärzt:innen im Vergleich zu den letzten Jahren weniger häufig, dass Massnahmen aus Kostengründen nicht angewandt oder ersetzt wurden. Auch mussten laut Angaben der befragten Ärzt:innen weniger oft Nachfragen von Krankenkassen bezüglich Abrechnung bearbeitet werden. Seit Beginn der Corona-Krise sind die dort tätigen Ärzt:innen jedoch zunehmend mit ungeplanten Rehospitalisierungen von Patient:innen mit derselben Diagnose konfrontiert und – wie in der Akutsomatik auch – die Entscheidung, ob spitalambulant oder stationär behandelt wird, erfolgt weniger aus medizinischen Gründen.

Während die absolute Anzahl Fälle, in denen die Entscheidung die Art und Weise der Behandlung (ambulant oder stationär) nicht aus medizinischen Gründen erfolgt, weiterhin gering bleibt, nimmt diese nicht nur zu, die Beurteilung fällt auch kritischer aus.

Sehr viel weniger Ärzt:innen in der Rehabilitation als noch im letzten Jahr finden, dass diese Entscheide medizinisch vertretbar waren.

Corona-Pandemie

Die Corona-Pandemie hatte insbesondere zu Beginn Folgen für die Versorgungsqualität im unmittelbaren Arbeitsbereich der Ärzteschaft. Primär betroffen waren damals die praxisambulanten Ärztinnen und Ärzte, während die restlichen Gruppen auch in diesen ersten, zuweilen unsicheren Tagen der Pandemie angaben, die Versorgungsqualität sei weiterhin eher bis sogar sehr gut.

Spätestens seit der zweiten Corona-Welle hat sich die Situation aber stabilisiert. Auch während der vierten und fünften Corona-Welle bewerten zwischen 68 Prozent (Psychiatrie) und 81 Prozent (Rehabilitation) die Qualität der Versorgung als sehr oder eher gut.

Während die Versorgung der Patient:innen weitgehend gewährleistet war und im Verlauf der Pandemie stabil bleibt, nimmt die Arbeitsbelastung der Ärzt:innen weiter zu. Heute geben 46 Prozent der akutsomatisch tätigen Ärzt:innen an, ihre Arbeitsbelastung hätte sich aufgrund der Corona-Pandemie stark erhöht. Bei den anderen befragten Gruppen von Ärzt:innen ist die wahrgenommene Erhöhung der Belastung sogar noch leicht ausgeprägter (Rehabilitation 56% , Psychiatrie 55%, Ambulant 48%).

Mit über drei Viertel der Befragten findet eine sinkende, aber immer noch klare Mehrheit, dass die Weiterbildung aufgrund der Pandemie nur eingeschränkt möglich war. Auch zeichnet sich keine weitere Akzentuierung hinsichtlich von Konflikten mit berufsethischen Grundsätzen, dem Arbeitsschutz oder der –Sicherheit im Laufe der Pandemie ab.

Im Vergleich zum Beginn der Pandemie hat sich die unmittelbare Versorgungssituation entspannt. Dennoch machen sich gewisse Auswirkungen der Krise erst mit der Zeit bemerkbar. So berichten immer mehr Ärzt:innen von Patient:innen mit Folgebeschwerden mit Kostenfolgen.

Im Bereich der Akutsomatik, bei den praxisambulant tätigen Ärzt:innen und in der Rehabilitation ist das besonders deutlich bemerkbar. Die Angst vor einem Arzt- oder Spitalbesuch wird weiterhin von einer Mehrheit der Ärzt:innen als Ursache für Folgebeschwerden mit Kostenfolgen angesehen. Zusätzlich gewinnt die Verzögerung elektiver Eingriffe und Therapien aufgrund der fehlenden Kapazitäten über die letzten zwei Jahre zunehmend an Bedeutung.

Die durchschnittliche geschätzte Wartezeit einer Patientin/eines Patienten ab Überweisung bis zur ersten relevanten Behandlung im letzten Jahr betrugt gemäss der Einschätzung der Befragten zwischen 16 Tage bei praxisambulant tätigen Ärzt:innen und 47 Tage in der Psychiatrie.

Fünf Prozent der befragten Psychiater:innen geben an, dass die durchschnittliche Wartezeit auf eine relevante Behandlung ca. sechs Monate beträgt.

Im Vergleich zur Zeit vor der Pandemie beobachten die Ärzt:innen in allen Untergruppen verlängerte Wartezeiten,

besonders ausgeprägt ist diese Entwicklung in der Psychiatrie und in der Akutsomatik, wo 56 respektive 40 Prozent angeben die Wartezeiten seien länger oder sogar deutlich länger.

Während die klaren Sparvorgaben, mit denen die Befragten konfrontiert waren, insbesondere in der Akutsomatik und der Rehabilitation während der Corona-Jahre etwas in den Hintergrund gerückt sind, nehmen sie dieses Jahr wieder zu.

Seit Ausbruch der Corona-Pandemie nimmt in der Akutsomatik zudem auch der Anteil Ärzt:innen wieder zu, die beobachten, dass versucht wird, chronisch Kranke oder multimorbide Patient:innen, in anderen Einrichtungen unterzubringen.

Mit 20 Prozent ist dieser Anteil so hoch wie seit 2014 nicht mehr, jedoch immer noch deutlich tiefer als zu Beginn der Befragungen im Jahr 2011. Trotz Kostendruck und Corona-Pandemie geben aber die meisten Ärzt:innen an, dass die Versorgung aller Patient:innen weiterhin gewährleistet ist.

Zu aktuellen Reformen im Gesundheitswesen zählt auch die sogenannte Liste „ambulant vor stationär“, die verschiedene operative Eingriffe festlegt, die in der Regel nur noch bei einer ambulanten Durchführung von der obligatorischen Krankenpflegeversicherung vergütet werden.

Die Ärzt:innen schätzen den Nutzen für Patient:innen unterschiedlich ein je nachdem, ob Sie selbst mindestens einen Eingriff durchgeführt haben oder ob sie für die Nachbehandlung zuständig sind. Während nämlich die Ärzteschaft in der Akutsomatik mehrheitlich der Meinung ist, die Liste „ambulant vor stationär“ habe sich mindestens eher bewährt, sind bei praxisambulanten Ärzt:innen lediglich rund ein Drittel dieser Auflassung.

Über den gesamten Befragungszeitraum betrachtet, zeigt sich auch hier ein unterschiedliches Verständnis davon, wie sich die Liste „ambulant vor stationär“ auf die Patient:innen auswirkt. Bei den Ärzt:innen der Akutsomatik lässt sich über die vergangen Jahre ein zunehmender Anteil erkennen, der einen Nutzen für die Patientinnen und Patienten sieht, während der Zuspruch der praxisambulant tätigen Ärzteschaft seit dem Jahr 2020 abnimmt.

Synthese

Corona-Pandemie: Ständig neue Herausforderungen

Trotz der grossen Belastung des Gesundheitswesens durch die Corona-Pandemie bliebt die Grundversorgung aller Patient:innen in den Augen der Ärzt:innen grösstenteils gewährleistet. Dort, wo die Versorgungqualität während des ersten Lockdowns noch als ungenügend beurteilt wurde, hat sich die Situation spätestens ab der zweiten Corona-Welle entspannt. Heute hat sich eine Art neuer Normalzustand eingependelt: Die unmittelbare Notsituation ist vorbei, die erhöhte Arbeitslast aber bleibt. Bis jetzt scheint sich zudem der erweiterte Einflussbereich bei Entscheidungen von Gesundheitsfachpersonen und Akteuren ausserhalb der Ärzteschaft im Kontext der Pandemie noch zu akzentuieren.

Ambulant vor Stationär

Die Verankerung der Liste „ambulant vor stationär“ ist während der letzten Jahre weitgehend in den Hintergrund gerückt. Die Meinungsbildung ist stagniert – abgesehen von jenen wenigen Behandelnden, die effektiv mit entsprechenden Eingriffen konfrontiert waren. Dort ist die Wahrnehmung je nach Umfeld jedoch diametral anders: In der Akutsomatik überwiegt die Ansicht, dass sich die Reform bewährt, während der Zuspruch bei den praxisambulanten Ärzt:innen weniger hoch ist. Auch hier ist eine Reanimation der Diskussion gefragt.

Folgebeschwerden wegen Verzögerungen

Während die unmittelbare Krise im Zuge der Covid-Pandemie weitgehend als überstanden gilt, dürften ihre eigentlichen Auswirkungen die Tätigkeit der Ärzt:innen noch eine Weile prägen. Die Wartezeit zwischen Überweisung und Behandlung hat im Vergleich zu 2019 in den letzten Jahren deutlich zugenommen. In der Einschätzung der Ärzteschaft nahm die Zahl an Patient:innen, die aufgrund der fehlenden Möglichkeit während der Pandemie, elektive Eingriffe durchzuführen Folgebeschwerden haben, zu.

Neues Abrechnungssystem und Folgeeffekte steigern Belastungen in der Rehabilitation

Der empfundene Dokumentationsaufwand in der Rehabilitation ist traditionell relativ hoch. Die Einführung von ST Reha im Januar 2022 und Folgeeffekte verzögerter elektiver Eingriffe aufgrund der Pandemie steigern die Belastungen in der Rehabilitation noch zusätzlich. Trotz dieser Veränderungen gibt es weiterhin keine Hinweise, dass die Betreuungsqualität in der Rehabilitation beeinträchtigt würde.

Psychiatrie: Warnlicht beim Thema "Access to Healthcare"

Die Schweiz zeichnete sich bisher durch den raschen Zugang zur hervorragenden Versorgung und Behandlung aus. Während das bei der Grundversorgung und in der Akutsomatik weitgehend gegeben ist, scheinen im Bereich der Psychiatrie zuweilen Engpässe vorhanden zu sein. Die Wartezeit für eine Behandlung hat sich insbesondere während der Corona-Jahre frappant verschlechtert.

Methodische Details

Projektname: Befragung zum ärztlichen Arbeitsumfeld im Auftrag der FMH

Auftraggeberin: FMH

Verantwortliches Institut: gfs.bern

Projektleitung: Lukas Golder (Co-Leiter), Cloé Jans (Leiterin Operatives), Corina Schena (Junior Projektleiterin)

Datenanalyse und -aufbereitung: Daniel Bohn (Projektmitarbeiter), Ronja Bartlome (Wissenschaftliche Mitarbeiterin)

Erhebungsart: Online (inkl. Befragung durch physischen Fragebogen n = 203)

Befragungszeitraum: 5. Mai – 16. Juni 2022

Befragungsgebiet: ganze Schweiz

Grundgesamtheit: Schweizer Ärzteschaft

Stichproben-Art: geschichtete Zufallsauswahl, Quotenkontrolle

Stichprobengrösse: N = 1547, (Akutsomatik n = 1080, Psychiatrie n = 81, Rehabilitation n = 47, Praxisambulant n = 339)

Gewichtung: designgewichtet

Stichprobenfehler: ± 2.5 Prozent bei 50/50