Entscheid zwischen Wunsch nach Wohnschutz, Protestvotum und Bürokratie

Nachanalyse Wohnraumfördergesetz

Fachstelle Wohnraumentwicklung, Abteilung Kantons- und Stadtentwicklung des Präsidialdepartements Basel-Stadt

Am 29. November 2020 haben die Stimmberechtigten des Kantons Basel-Stadt die Änderung des Gesetzes über die Wohnraumförderung äusserst knapp mit 50.05% Ja Stimmten und einem Vorsprung von lediglich 56 Stimmen angenommen (Stimmbeteiligung 57.77%).

Mit diesem so extrem knappen Entscheid hat eine sehr grosse Minderheit zum Ausdruck gebracht, dass sie mit der Vorlage nicht einverstanden war. Der Entscheid lässt offen, warum die Vorlage von einem gewichtigen Teil der Bevölkerung abgelehnt wurde. Sind die Stimmberechtigten mit der kantonalen Wohnungsförderungsstrategie allgemein unzufrieden? Liegt es an der konkreten Vorlage? Welche Argumente waren für die Ablehnung ausschlaggebend?

Der Kanton Basel-Stadt wünscht sich weitergehende Erkenntnisse und hat das Forschungsinstitut gfs.bern mit einer Nachanalyse des Entscheids beauftragt.

Das vorliegende Cockpit stellt die wichtigsten Erkenntnisse dar.

Vorlage adressiert das richtige Problem

Generell adressiert eine Reformvorlage, welche die Mietsituation verbessern will, ein generelles Wohlwollen im Kanton Baselstadt. Mehrheitliche 74% aller Stimmberechtigten im Kanton erachten die Wohnungssuche als zumindest eher schwer. Im Zentrum dieser Problemsicht stehen aus Sicht der Befragten dabei die zu hohen Mieten und das fehlende Angebot resp. ein schlechtes Preis-Leistungsverhältnis.

Dass gleichzeitig aber auch 86% der Befragten mit der eigenen Wohnsituation mehr oder weniger dezidiert zufrieden sind, relativiert den Problemdruck teilweise. Insgesamt sehen die Stimmberechtigten aus Basel-Stadt durchaus ein Problem, sind aber selber davon im Alltag nicht übermässig betroffen. Eine Reform in einem solchen Umfeld befasst sich damit mit einer mehrheitlichen Problemsicht, allerdings ohne, dass die Situation aus Sicht der Befragten so schlimm wäre, als dass man die erstbeste Lösung wählen müsste.

 

58% aller UrnengängerInnen hatten beim Abstimmungsentscheid Entscheidschwierigkeiten. Das ist ein ausgesprochen hoher Anteil, den wir bei Abstimmungen eher selten beobachten. Es kann auf einer solchen Basis vermutet werden, dass im sehr knappe Stimmentscheid durchaus auch Verunsicherung mitschwang: Wir beobachten bei Abstimmungsvorlage oft, dass sich gerade Personen, welche die Vorlage bis am Schluss nicht ganz durchschauen, eher für den Status Quo stimmen – und das ist bei Behördenvorlagen die Ablehnung.

Bezeichnenderweise scheint die thematische Überforderung dann auch eher der Nein-Seite zugedient zu haben. Insgesamt findet sich ein leichter Wunsch nach mehr Informationen zur Gesetzesrevision, er ist allerdings nicht flächendeckend vorhanden. So fühlten sich 54% aller UrnengängerInnen grundsätzlich gerade richtig informiert, während diese Anteil mit konkretem Bezug zu Informationen seitens der Behörden auf 48% sinkt. Der konkrete Wunsch nach mehr Behördenkommunikation machte minderheitliche, aber gewichtige 33% aus. Angesichts des knappen Resultats und der Tatsache, dass thematisch Überforderte überdurchschnittlich Nein stimmten, hätte ein Plus an Kommunikation, insbesondere an Behördenkommunikation durchaus zu einem leicht deutlicheren Ja führen können.

Einseitige Mobilisierung

Die Teilnahme am kantonalen Urnengang war im Vergleich zu den letzten Jahren überdurchschnittlich hoch. Die erhöhte Mobilisierungskraft lässt sich dabei durchaus auf die Gesetzesrevision zurückführen. So beobachten wir ein erhöhter Teilnahmewillen unter Personen, welche mit der eigenen Wohnsituation mehr oder weniger dezidiert unzufrieden sind. Hier zeigt sich der Bezug zur Problemsicht deutlich: Wer selber in einer problematischen Situation steckt war wesentlich stärker für den Urnengang mobilisiert.

Gleiches sehen wir auch auf der Ebene eines möglichen Protestvotums. So waren Personengruppen, welche gegenüber der Politik kritisch eingestellt sind, deutlich stärker mobilisiert, als Personen, welche Vertrauen in die Politik setzen. Das ist aussergewöhnlich, normalerweise nehmen Politikkritische an Urnengängen unterdurchschnittlich teil. Augenscheinlich hat die Vorlage Proteststimmen mobilisiert, was erfahrungsgemäss zum Nachteil einer Behördenvorlage ist.

Daneben finden sich die üblichen Unterschiede in der Teilnahme an Urnengängen. Gerade Junge haben wesentlich weniger stark am Urnengang teilgenommen, als wir dies für Personen über 65 Jahre festhalten.

Mischung aus Behördenkritik und fehlender Problemlösung

An erster Stelle hat die einseitige Mobilisierung den erwarteten Einfluss auf die Stimmabgabe. Die überdurchschnittliche Mobilisierung von Protestvoten führt tatsächlich zu den erwartbaren Nein-Stimmen gegenüber der Vorlage, während Personen mit Vertrauen in die Politik zu fast zwei Drittel der Behördenposition folgen.

An zweiter Stelle sprachen sich auch Personen gegen die Vorlage aus, die im eigenen Alltag unzufrieden sind mit der aktuellen Wohn- und Mietsituation. Augenscheinlich diente die Revision aus Sicht dieser Personengruppe zu wenig dazu, ihre Unzufriedenheit im Alltag aufzulösen.

Noch präzisieren lässt sich die Problemsicht aus dem eigenen Alltag heraus mit einem Blick auf Anzahl Personen im eigenen Alltag. Dabei zeigt sich, dass die Ablehnung mit zunehmender Anzahl Mitbewohner*innen deutlich anwächst und grossen Haushalten grossmehrheitlich ausgeprägt ist. Augenscheinlich findet sich gerade bei grösseren Haushalten verstärkt Zweifel daran, ob die Vorlage wirklich zu einer Verbesserung des individuellen Problems beiträgt

Bürokratie- und Nutzenbedenken führten zum Nein

Dass die Vorlage umstritten war, zeigt auch ein Blick auf die dahinterliegenden Argumente. So finde sich auf der Pro-Seite drei Argumente, die mehrheitlich geteilt werden, bis auf das meistgeteilte sind aber alle relativ umstritten. Relativ einig sind sich die Urnengänger*innen in Bezug auf die Aussage, dass die Revision dabei hilft, dass Eigentümer nach wie vor ökologisch wichtige Sanierungen machen können. 76% aller Urnengänger*innen sprechen sich dafür aus. Immerhin eine Zweidrittelmehrheit findet die Aussage, dass ein Nein die Umsetzung des Wohnscutzes stark verzögert hätte. Ob Mieter von der vorgesehenen Wohraumförderung profitieren oder nicht, spaltet die UrnengängerInnen fast hälftig. Alle anderen Pro-Argumente werden mehrheitlich verworfen.

Auf der Contraseite findet sich eine relativ breite Palette an mehrheitlich geteilten Argumente. So betonen Mehrheiten, dass die Vorlage zu wenig Schutz für den Mieter bietet, zu mehr Bürokratie führt, den Mittestand im Stich lässt, den Volkswillen missachtet oder zu viele Schlupflöcher hat. Insgesamt zeigt sich damit eine relativ breite Auslegeordnung an Schwachstellen.

Erläuterung: Die eingesetzte Methode der logistischen Regression beschreibt das Vorhandensein des Einflusses von unabhängigen Variablen (in abnehmender Reihenfolge) auf eine abhängige Variable. Anhand der Farbe lässt sich unterscheiden, ob ein Element eher zu einer Ja-Stimmabgabe (blau) oder eher zu einer Nein-Stimmabgabe (orange) geführt hat. Nagelkerkes R2 ist ein Pseudo-Bestimmtheitsmass, das den erklärten Anteil der Varianz der abhängigen Variablen durch alle unabhängigen Variablen im Modell angibt – je näher der Wert bei 100 liegt, desto grösser ist die Erklärungskraft des Modells. Die hier ausgewiesenen 60% sind ein relativ hoher Wert. Argumente, welche in der Grafik nicht erscheinen, haben keinen Einfluss.

Nicht jede davon war allerdings für den Entscheid gleich entscheidend. Beispielsweise kann ich der Meinung sein, dass die Vorlage zu wenig Mieterschutz bietet, aber der Vorlage trotzdem zustimmen, weil ich noch stärker befürchten, dass eine Ablehnung den Prozess stark verzögert. In einem solchen Fall hätte die Angst von Verzögerung eine stärkere Wirkung auf meinen Entscheid als der fehlende Mieterschutz. In einer weitergehenden Analyse können wir exakt solches statistisch herausrechnen.

Im vorliegenden Fall gibt es drei Pro-Argumente und zwei Contra-Argumente, welche hauptsächlich dazu geführt haben, dass jemand Ja oder Nein gestimmt hat. Zum Ja führte dabei die Vorstellung, dass das neue Gesetz eine kluge Umsetzung der Wohnschutzinitiative ist, Immobilienspekulation verhindert wird oder ein Nein Wohnschutz stark verzögert. Bemerkenswerterweise war die ökologische Argumentation nicht stimmentscheidend.

Die Ablehnung entstand hingegen aus einer Mischung aus Angst vor Bürokratie und Befürchtung, dass das neue Gesetz nur wenige schützt. Bemerkenswerterweise setzt sich die Ablehnung inhaltlich damit aus klassisch bürgerlicher Kritik an anwachsender Bürokratie und dem eigentlichen Antrieb der Referendumsergreifer*innen, dem Schutz von wenigen zusammen. Oder anders formuliert scheiterte die Vorlage inhaltlich daran, dass es Angriffspunkte sowohl von Links, aber auch von rechts gab.

Erste Synthese

Die Revision des Wohnraumförderungsgesetzes wurde an der Urne knappmehrheitlich angenommen. Diese Annahme hatte mehrere Gründe:

  • Erstens teilen grosse Mehrheiten die Ansicht, dass die Mietwohnungssuche in Basel schwierig ist. Entsprechend trifft eine entsprechende Revision auf ein generelles Wohlwollen.
  • Zweitens entstand das knappe Resultat strukturell deshalb, weil Personen mit Unzufriedenheit gegenüber der eigenen Wohnsituation oder der Politik überdurchschnittlich mobilisiert waren und überdurchschnittlich stark eine Ablehnung an die Urne trugen. Gerade zweiteres ist bei Behördenvorlagen selten und geben der Vorlage den Anstrich eines generellen Protestvotums gegenüber einem Behördenentscheid.
  • Drittens begründet sich die Zustimmung damit, dass man in der Vorlage eine kluge Fortsetzung der Wohnschutzinitiative, sowie eine Verhinderung von Immobilienspekulationen sieht, während man auch die Verzögerung von Wohnschutz bei einer Ablehnung fürchtete. Abgelehnt wurde die Vorlage aufgrund Befürchtung von mehr Bürokratie und der Vorstellung, dass nur sehr wenige von der vorgesehenen Wohnförderung profitieren.
  • Schlussendlich beeinflussten aber auch Schwierigkeiten in der Meinungsbildung den Stimmentscheid. Einerseits galt der Entscheid als schwierig und eine nicht unwesentliche Gruppe wünschte sich mehr Informationen. Erfahrungsgemäss stimmen dezidierte Urnengänger*innen, die sich nicht entscheiden können, eher für den Status Quo und damit gegen die Vorlage. Andererseits sehen wir aber auch, dass rund 20% der Urnengänger*innen fälschlicherweise davon ausgingen, dass man für ein «Nein» zum Gesetz «Ja» stimmen muss. Verstärkt findet sich dieser Irrtum bei SP-Sympathisant*innen, was durchaus ein gewissen Anteil an irrtümlichen «Ja» vermuten lässt.