Wahrnehmung sexuelle Beziehungen und Gewalt

Bevölkerung empfindet Zustimmungs-Lösung als bester Schutz gegen sexualisierte Gewalt

Amnesty International Schweiz

Diese Studie untersucht die Wahrnehmung der Einwohner*innen der Schweiz im Zusammenhang mit sexualisierter Gewalt. Die Ergebnisse basieren auf einer repräsentativen Online-Befragung von 1012 Personen, durchgeführt durch gfs.bern.

Ziel dieser Befragung ist es, die individuelle Ausgangslage und Einstellungen im Zusammenhang mit Sexualität, Beziehungen und sexualisierter Gewalt in der Schweiz zu erheben. Neben der Erhebung der generellen Problemwahrnehmung geht es insbesondere darum, zu verstehen, wie Zustimmung zu sexuellen Handlungen ausgedrückt und wahrgenommen wird.

Ein Schwerpunkt liegt im Zusammenhang mit der Revision des Sexualstrafrechts zudem auf der Frage nach dem politischen Handlungsbedarf sowie dem bestmöglichen Schutz für von sexualisierter Gewalt Betroffenen durch das Gesetz. Bei dieser Studie handelt es sich um Meinungsforschung, eine Erhebung der Prävalenz im Zusammenhang mit sexualisierter Gewalt wird nicht gemacht.

Der Fragebogen wurde von gfs.bern in Zusammenarbeit mit Amnesty International Schweiz erstellt. Mit ihrem Fachwissen zur Umfrage beigetragen haben zudem zahlreiche Expert*innen und Organisationen. Für Details siehe Info-Box am Ende des Cockpits.

Klare Meinung der Bevölkerung: die Zustimmungs-Lösung schützt am besten

Werden die Einwohner*innen der Schweiz gefragt, was von sexualisierter Gewalt Betroffene am besten schützt, fällt der Entscheid äusserst deutlich auf die Zustimmungs-Lösung („Nur Ja heisst Ja“). Das aktuell geltende Nötigungs-Prinzip aber auch die Ablehnungs-Lösung („Nein heisst Nein“), welche als Alternative zur Zustimmungs-Lösung diskutiert wird, fallen im Vergleich dazu bei weiten Teilen der Bevölkerung durch.

Dabei fällt auf, dass die Unterstützung zur Zustimmungs-Lösung just in jenen Gruppen, die sich als besonders gefährdet einschätzen, Opfer sexualisierter Gewalt zu werden (Frauen, junge und queere Menschen) besonders hoch ist. Die Politik hat jetzt die Möglichkeit, sich bei der Revision des Sexualstrafrechts an den Realitäten und Bedürfnissen der Bevölkerung und insbesondere auch von besonders gefährdeten Personen zu orientieren.

Konsens ist bereits heute gelebte Realität

Die grosse Mehrheit der Einwohner*innen der Schweiz (81%) stellt gemäss eigenen Aussagen bereits heute sicher, dass das Gegenüber mit jeder sexuellen Handlung einverstanden ist. Flächendeckend besteht Einigkeit darüber, dass es eine Einwilligung zum Geschlechtsverkehr ist, wenn das Gegenüber gefragt wurde und klar zugestimmt hat. Der Anteil der Befragten, die es für unromantisch halten, nach der Zustimmung zu fragen, ist nur halb so gross wie jener, die damit kein Problem haben. Ganz besonders Frauen, die von sexualisierter Gewalt nach wie vor am meisten betroffen sind, empfinden das Einholen der Zustimmung nicht als unromantisch.

Damit ist klar, dass bereits heute in vielen Partnerschaften und sexuellen Beziehungen gegenseitige Zustimmung als Realität gelebt wird und einen wichtigen Stellenwert hat. Eine Anpassung der Gesetzgebung in Richtung einer Zustimmungs-Lösung schützt in den Augen der Einwohner*innen demnach nicht nur die von sexualisierter Gewalt Betroffenen am besten, sondern würde auch für die allermeisten nichts an ihrer aktuell gelebten einvernehmlichen Sexualität ändern.

Stereotype und Rollenbilder prägen die Meinungsbildung eindeutig, aber weniger das Verhalten

Die Frage, ob Unterschiede zwischen den Geschlechtern sozial konstruiert oder biologisch programmiert sind, treibt Forscher*innen seit vielen Jahren um. Bei einer klaren Mehrheit der Einwohner*innen der Schweiz herrscht die Meinung vor, dass Männer und Frauen von Natur aus unterschiedliche Stärken, Schwächen und Eigenschaften haben. Personen, die stärker an naturgegebene Geschlechterunterschiede glauben, sind zudem zurückhaltender in der Zustimmung zu neuen Massnahmen, um sexualisierte Gewalt in der Schweiz anzugehen.

 

Hinsichtlich ihrer Einschätzung zur Auswirkung natürlicher Unterschiede auf das Verhalten im Bereich der Sexualität und Beziehungen fallen die Meinungen der Befragten allerdings differenziert aus. So ist zwar eine Mehrheit der Meinung, dass Frauen komplexere sexuelle Bedürfnisse hätten als Männer, nur eine Minderheit findet jedoch, dass die männliche Sexualität von Natur aus impulsiv und unkontrollierbar sei. Dagegen findet die Aussage, dass Männern regelmässiger Sex wichtiger sei als Frauen, keine eindeutige Mehrheit.

Problematische Ansichten zur sexuellen Verfügbarkeit

Die grosse Mehrheit der Einwohner*innen der Schweiz gibt an, sich rücksichtsvoll zu verhalten, wenn es um Beziehungen und Sexualität geht. Das heisst, es wird aktiv sichergestellt, dass das Gegenüber mit sexuellen Handlungen einverstanden ist, Grenzen werden respektiert und übergriffiges Verhalten wird weder selbst ausgeübt noch toleriert.

Die Studie macht jedoch immer wieder Meinungen ersichtlich, die auf problematisches Verhalten und Einstellungen hinweisen. Rund jede fünfte Person empfindet es mindestens eher als Einwilligung zu Sex, wenn das Gegenüber irgendwann früher einmal zugestimmt hat und jede zehnte Person, wenn die Person aktuell zwar schläft, aber sonst immer zustimmt. Ebenfalls rund jede zehnte Person findet, Geschlechtsverkehr mit Partner*innen sei unter bestimmten Umständen in Ordnung, auch wenn das Gegenüber aktuell nicht zugestimmt hat.

In der Interpretation, was als Zustimmung zu werten ist und was nicht, bestehen allerdings grosse Unterschiede zwischen den Geschlechtern: Männer sehen bei verschiedensten Verhaltensweisen viel eher Spielraum für Zustimmung, als das bei Frauen der Fall ist.

Obwohl die Mehrheit in der Schweiz angibt, sich vorbildlich zu verhalten, braucht es nicht mehr als eine Minderheit mit problematischem Zugang zu Beziehungen und Sexualität, um die sexualisierte Gewalt und übergriffiges Verhalten in der Schweiz zu einem gesamtgesellschaftlichen Problem zu machen. Und die Einwohner*innen der Schweiz verorten in diesem Bereich durchaus ein Problem – weniger im persönlichen Umfeld, aber ganz bestimmt in der Schweiz als Ganzes.

Kommunikation über Sex fällt vielen schwer – insbesondere den Männern

Während sich die Einwohner*innen der Schweiz einig sind, dass eine klare Zustimmung am ehesten zu einvernehmlichem Sex führt, fällt es vielen schwer, über Sex und sexuelle Bedürfnisse zu sprechen. 54 Prozent geben an, dass sie Mühe haben, über sexuelle Vorlieben, Bedürfnisse und Grenzen zu sprechen. 34 Prozent finden es schwierig einzuschätzen, was das Gegenüber will. Dies ist bei Personen, die sich als Mann definieren, am stärksten ausgeprägt.

Die Daten deuten insgesamt darauf hin, dass Kommunikation rund um Sexualität Männern eher schwerer fällt als Frauen und non-binären Personen. So finden etwa 45 Prozent, dass Männer mit sexueller Kommunikation oftmals überfordert sind und darum unabsichtlich Grenzen überschreiten. Dass Frauen dagegen nicht klar sagen, was sie wollen, finden lediglich 17 Prozent.

Umgang, Problemwahrnehmung und Lösungsvorschläge: Generationen-Gap

Zwischen der jungen und älteren Bevölkerung der Schweiz finden sich in vielen Belangen Unterschiede in der Herangehensweise an das Thema Sexualität und Beziehungen. Junge Menschen gehen beispielsweise weniger von naturgegebenen biologischen Unterschieden zwischen den Geschlechtern aus, sie teilen die Befürchtung falscher Anschuldigungen gegenüber Männern wegen sexuellen Missbrauchs weniger und haben weniger Probleme mit der Kommunikation im Zusammenhang mit Sex.

Zugleich ist die Problemwahrnehmung und die Betroffenheit – sowohl im persönlichen Umfeld als auch in der Gesellschaft als Ganzes – bei Jüngeren ausgeprägter als bei älteren Leuten:

Jüngere Personen nehmen sexualisierte Gewalt eindeutig als Problem wahr. Handlungsbedarf sehen Vertreter*innen der Generationen Z und Y primär bei der Polizei und den Gerichten, in Bildungsinstitutionen, bei den Medien sowie – unabhängig vom Geschlecht – auf individueller Ebene. Bei den jüngeren Gruppen wird die Zustimmungs-Lösung klar als bester Schutz der Opfer von sexualisierter Gewalt angesehen; deutlich stärker, als dies bei älteren Personen der Fall ist. Junge stehen klar für „Nur Ja heisst Ja“ ein.

Methodische Details

Auftraggeber: Amnesty International Schweiz

Grundgesamtheit: Einwohner*innen der Schweiz ab 18 Jahren, die einer der drei Landessprachen Deutsch, Französisch oder Italienisch mächtig sind

Erhebungsart: Online-Panel polittrends.ch

Auswahlverfahren: Selbst partizipatives Verfahren

Stichprobengrösse: Total Befragte CH N = 1’012 (n DCH = 701, n FCH = 205, n ICH = 106)

Befragungszeitraum: 03.03. bis 10.03.2022

Stichprobenfehler: 3.1% bei 50/50 und 95-prozentiger Wahrscheinlichkeit

Gewichtung: Nach Alter, Geschlecht, Sprachregion, Bildung und Partei

Mit ihrem Fachwissen zur Umfrage beigetragen haben zudem die folgenden Expert*innen und Organisationen:

cfd – die feministische Friedensorganisation, Anna-Béatrice Schmaltz,

InterAction Schweiz, Mirjam Werlen

Operation Libero, Team Sexualstrafrecht von Operation Libero

Sexuelle Gesundheit Schweiz

Agota Lavoyer, Expertin für sexualisierte Gewalt und Opferberatung;

Queeramnesty, Stefan Faust

NCBI Schweiz, „ja, nein, vielleicht“

Mona-Lisa Kole, Expertin für Diskriminierungsfragen