Standort Schweiz 2024 – Europafragen im Auftrag der Interpharma
Neuste Resultate der Befragungsserie Standort Schweiz im Auftrag der interpharma
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Im Winter wurde die Diskussion rund um die Beziehungen mit Europa mit der Wiederaufnahme des Verhandlungsmandats neu lanciert. Die Stimmung ist ungebrochen und verstärkt positiv, allerdings wächst auch der kritische Blick im Kleinen. Nichtsdestotrotz sind es weiterhin praktisch ausschliesslich die Stimmberechtigten im Lager der SVP und die Parteiungebundenen, die in grösseren Mengen Nachteile in den Bilateralen sehen. Auf inhaltlicher Ebene hat die Stärkung des Friedens in Europa etwas an Relevanz verloren. Die positive Sicht ist wieder in erster Linie auf die Vorteile für die Wirtschaft und den daraus entstehenden Wohlstand zurückzuführen. Auf der Gegenseite konnten alle Kritikpunkte etwas an Unterstützung gewinnen, wobei insbesondere neu auch die Belastung der Sozialwerke aufgrund der Zuwanderung aus der EU mehrheitsfähig und auch meinungswirksam ist.
Nachdem die Schweizer Stimmberechtigten die bilateralen Verträge bereits im Vorjahr positiver einschätzten, führt sich dieser positive Trend auch dieses Jahr fort und der Anteil mit Vorteilssicht steigt wiederum an. Gleichzeitig wächst allerdings auch die Nachteilssicht etwas an, was auf eine verstärkte öffentliche Diskussion und eine zunehmende Polarisierung der Ansichten bezüglich Europa schliessen lässt.
In der aktuellen Befragungswelle im Sommer 2024 sehen so viele Stimmbürgerinnen und Stimmbürger Vorteile wie in den letzten zehn Jahren nicht:
Zurzeit sieht die klare Mehrheit von 65 Prozent hauptsächlich Vorteile in den bilateralen Verträgen, was einem Zuwachs von 6 Prozentpunkten entspricht. Auf der anderen Seite wächst auch die Nachteilssicht gegenüber 2023 um 7 Prozentpunkte auf neu 19 Prozent. Sichtbar weniger Befragte als noch in der letzten Befragungswelle sehen sowohl Vor- als auch Nachteile (14%, -9 Prozentpunkte).
Die Diskussion bezüglich des Verhandlungsmandats, die sichtbar an Fahrt gewonnen hat, schlägt sich also in einer verstärkten Polarisierung der Ansichten gegenüber der Zusammenarbeit mit Europa nieder.
Wie in den vorangehenden Befragungswellen spielt auch 2024 die Parteisympathie eine zentrale Rolle bei der Erklärung der Haltungen gegenüber den Bilateralen:
In der traditionell pro-europäisch eingestellten Linken bleiben die Ansichten gegenüber 2023 recht stabil, wobei die Anhänger:innen der SP (78% nur/eher Vorteile, +5 Prozentpunkte) anders als noch 2023, sogar noch etwas positiver eingestellt sind als diejenigen der Grünen (74%, -3 Prozentpunkte). Unverändert ist 2024 der Anteil mit Vorteilssicht im Lager der GLP (89%, +2 Prozentpunkte) sichtbar am grössten.
Besonders stark ist die Verschiebung in Richtung Vorteilssicht im gesamten bürgerlichen Lager:
2024 sehen drei Viertel der Anhänger:innen der Mitte (75%, +9 Prozentpunkte) eher oder nur Vorteile in den Bilateralen. Hier setzt sich somit der positive Trend seit mittlerweile 4 Jahren fort, nachdem 2020 noch eine Minderheit von 40 Prozent Vorteile in den bilateralen Verträgen mit der EU gesehen hat. Das gleiche Bild zeigt sich auch bei den Sympathisant:innen der FDP, wo 2024 gar 79 Prozent (+14 Prozentpunkte) hauptsächlich Vorteile in den Bilateralen sehen, womit dieser Anteil in den vergangenen drei Befragungswellen jeweils stark gewachsen ist.
Im SVP Lager zeigt sich die Polarisierung besonders stark, wo sich die Vor- und die Nachteilssicht praktisch die Waage halten, wobei beide Lager klar zulegen gegenüber dem Vorjahr: Einerseits wächst die positive Sicht auf die bilateralen Verträge um 14 Prozentpunkte auf 45 Prozent. Andererseits verdoppelt sich der Anteil mit Nachteilssicht fast (43% eher/nur Nachteile, +21 Prozentpunkte).
Unter den Stimmberechtigten ohne klare Parteisympathie sehen zwar mehr Personen Nachteile in den Bilateralen als noch vor Jahresfrist (24% eher/nur Nachteile, +11 Prozentpunkte). Die Vorteilssicht überwiegt aber weiterhin deutlich (55% eher/nur Vorteile, +1 Prozentpunkt).
Entlang der Schulbildung bleiben die Differenzen bezüglich der Ansichten zu den Bilateralen gross, wobei sich insbesondere die Stimmberechtigten mit mittlerem Bildungsniveau polarisiert haben, während die Haltungen im tiefen und im hohen Bildungssegment der Stimmbevölkerung recht stabil bleiben:
Drei Viertel der Personen mit einem hohen (tertiären) Bildungsabschluss beurteilen die Bilateralen hauptsächlich vorteilhaft (73%, -2 Prozentpunkte). Gerade im Vergleich zu Personen mit tiefen Bildungsniveau (ohne Lehrabschluss oder Matura) (43% eher/nur Vorteile, +3 Prozentpunkte) bleiben die Unterschiede sehr gross, da Personen in diesem Milieu deutlich schwieriger von den individuellen Freiheiten profitieren können, welche die bilateralen Verträge mitbringen. Im mittleren Bildungssegment (Berufslehre) polarisieren sich die Ansichten hingegen. Einerseits steigt die Vorteilssicht gegenüber der letzten Befragung stark an und übertrifft erstmals auch die 50 Prozent-Marke (62% eher/nur Vorteile, +14), gleichzeitig schätzen aber auch sichtbar mehr die Bilateralen als nachteilig ein (21% eher/nur Nachteile, +9 Prozentpunkte).
In den drei Sprachregionen können wir ebenfalls unterschiedliche Dynamiken feststellen:
Im deutschsprachigen Teil des Landes setzt sich der Wachstumstrend der Vorteilssicht 2024 fort: nach einem Anstieg von 10 Prozentpunkten 2023, übertrifft die Vorteilssicht mit 69 Prozent diesen Höchstwert nochmals um 7 Prozentpunkte. Noch 2020 hatte eine Minderheit der Deutschschweizer Stimmberechtigten die Bilateralen als hauptsächlich vorteilhaft beurteilt. In der Romandie hat sich hingegen der Negativtrend stabilisiert, die Vorteilssicht bleibt somit auch 2024 über der 50 Prozent-Marke (53% eher/nur Vorteile, ±0). Unter den italienischsprachigen Stimmberechtigten bleibt die Volatilität hoch, und die Ansichten polarisieren sich. Sowohl die Vorteilssicht (52% eher/nur Vorteile, +12 Prozentpunkte) als auch die Nachteilssicht (29% eher/nur Nachteile, +7 Prozentpunkte) legen zu.
Die Siedlungsdichte der Wohnorte der Befragten spielt hingegen auch 2024 eine eher untergeordnete Rolle in der Einschätzung der Bilateralen. In sämtlichen Gruppen steigt die Vorteilssicht an, in den grossen Städten ist der Sprung aber etwas grösser. Somit liegt die Vorteilssicht in städtischen Gemeinden (70% eher/nur Vorteile) etwas über den Werten der ländlichen Gebiete (64%) und kleinen oder mittleren Agglomerationen (61%).
Entlang des Alters und des Geschlechts der Befragten haben sich die Differenzen wenig verändert: Auch 2024 bewerten die pensionierten Stimmberechtigten die bilateralen Verträge häufiger als vorteilhaft (76% eher/nur Vorteile) als die jungen (unter 40 Jahren: 61%) oder die mittelalten Stimmbürger:innen (40-64 Jahre: 61%). Weiter schätzen die Männer die Bilateralen weiterhin öfter positiv ein (69% eher/nur Vorteile) als Frauen dies tun (62%).
Der Anstieg in der Vorteilssicht auf die Bilateralen als Ganzes, zeigt sich auch in der hohen Relevanz von konkret abgefragten Vorteilen, die ebendiese Verträge mit der EU mit sich bringen. Im Vergleich zum Vorjahr sinkt die Wichtigkeit von Frieden und Sicherheit auf sehr hohem Niveau leicht:
Nachdem die Stärkung des Friedens in Europa letztes Jahr noch an erster Stelle lag, ist dieses Element aktuell leicht weniger im Fokus (81% eher/sehr relevant, -5 Prozentpunkte), bleibt aber neben den Vorteilen für die Schweizer Wirtschaft (86%, ±0) und für den Forschungsstandort (83%, ±0) ein zentraler Vorteil für die Stimmbevölkerung.
Im zweiten Block folgt das einfache Reisen ohne Passkontrolle (76%, +6 Prozentpunkte) und die Stärkung der Sicherheit in der Schweiz (75%, -4 Prozentpunkte). Die Möglichkeit in Europa zu arbeiten (70%, +8 Prozentpunkte) und zu studieren (69%, +9 Prozentpunkte) gewinnen an Relevanz, liegen aber weiterhin am Ende der Rangliste.
Die Zustimmung zu den Pro-Argumenten zu den bilateralen Verträgen mit der EU bleibt auf hohem Niveau stabil. Der Anstieg in der Vorteilssicht der Bilateralen generell überträgt sich aber nicht gleichermassen stark auf höhere Befürwortung einzelner Vorteile:
Grosse Mehrheiten sehen auch 2024, dass die Schweiz dank den Bilateralen Zugang zum Exportmarkt geniesst (84% eher/voll einverstanden, -2 Prozentpunkte) und zu Bildungs- und Forschungsprogrammen bekommt (82%, +1 Prozentpunkt), sowie die Möglichkeit in der EU überall wohnen, arbeiten und studieren zu können (77%, -3 Prozentpunkte). Die neu abgefragte Aussage dass der Abbau von Handelshemmnissen für die Schweizer Unternehmen wichtig ist, landet ebenfalls in dieser Spitzengruppe (84%). Auf hohem Level leicht rückläufig sind die Ansichten, dass die Schweiz auf Fachkräfte aus dem Ausland angewiesen ist (79%, -6 Prozentpunkte) sowie, dass die Bilateralen der Schweiz zu Wohlstand verhelfen (71%, -6 Prozentpunkte). Auch 2024 vermag das Argument dass die Schweiz dank den Verträgen mit der EU von Asylwanderungen verschont wird, nicht zu überzeugen (25%, -6 Prozentpunkte).
Die verstärkte Polarisierung in Bezug auf die Zusammenarbeit zwischen der Schweiz und der EU zeigt sich insbesondere im Anstieg der Zustimmungswerte zu den Contra-Argumenten rund um die Bilateralen:
Neben dem Druck auf die einheimischen Löhne durch die Personenfreizügigkeit (63% eher/voll einverstanden, +5 Prozentpunkte) und den höheren Miet- und Immobilienpreisen aufgrund der Zuwanderung (61%, +5 Prozentpunkte) ist 2024 auch eine Mehrheit der Stimmberechtigten der Meinung, dass die Zuwanderung eine Belastung für die Sozialwerke ist (56%, +10 Prozentpunkte). Dass die Schweiz die Kontrolle über die Zuwanderung verloren hat, hat ebenfalls deutlich an Zustimmung gewonnen, bleibt aber unter der 50-Prozent-Marke (46%, +8 Prozentpunkte). Knapp ein Viertel ist der Meinung, dass die Schweiz nicht auf die Bilateralen angewiesen ist (24%, +8 Prozentpunkte).
Die Einschätzung zu den aktuellen bilateralen Verträgen lässt sich mit weitergehenden Analysen auch inhaltlich begründen. Im ersten Schritt wird dabei mittels Regressionsanalyse der Einfluss der Pro- und Kontra-Argumente auf die allgemeine Sicht der Bilateralen untersucht:
Eine positive Einschätzung der Bilateralen wird am stärksten durch die Ansicht, sie verhelfen zu Wohlstand und sie sichern den Zugang zum Exportmarkt beeinflusst. Wer einer der beiden Aussagen zustimmt, hat eine rund 25 Prozent höhere Wahrscheinlichkeit, die bilateralen Verträge als positiv zu bewerten. Auf inhaltlicher Ebene wird die Vorteilssicht weiterhin in erster Linie aus Wirtschaftsoptik begründet.
Auf der anderen Seite sind die Haltungen, dass die Schweiz gar nicht auf die bilateralen Verträge mit der EU angewiesen ist, sowie dass die Zuwanderung aus der EU eine grosse Belastung für die Schweizer Sozialwerke sind, die sich signifikant auf eine Nachteilssicht auf die Bilateralen allgemein auswirken. Die Argumentation der hohen Belastung der Sozialwerke ist also neu nicht nur mehrheitsfähig in der Stimmbevölkerung sondern ist auch in der Meinungsbildung als Gegenargument wichtig.
Nicht meinungswirksam ist das Argument, dass durch die Verträge die einheimschen Löhne unter Druck kommen. Augenscheinlich gelingt es den aktuellen Abfederungsmassnahmen gut, diesen Konflikt in der Wahrnehmung gar nicht erst entstehen zu lassen.
Die eingesetzte Methode der linearen Regression beschreibt das Vorhandensein des Einflusses von unabhängigen Variablen (hier: die verschiedenen Argumente rund um die Bilateralen) auf eine abhängige Variable (Einschätzung bilaterale Verträge). Anhand des Vorzeichens lässt sich unterscheiden, ob ein Element eher zu einer Vorteilssicht (positives Vorzeichen) oder eher einer Nachteilssicht (negatives Vorzeichen) auf die Bilateralen führt. Je grösser der absolute Wert des Faktors einer unabhängigen Variable ist, desto grösser ist der Einfluss auf die Einschätzung der Bilateralen. Variablen, welche die Null-Linie kreuzen, haben (auf einem 95%-Konfidenzintervall) keinen statistisch nachweisbaren Einfluss. Die Interpretation dieser linearen Regression geschieht unter der Annahme, dass andere Einflüsse im Modell konstant gehalten werden (ceteris paribus). Auf diese Weise ist es möglich, den isolierten Einfluss der unabhängigen Variablen auf die abhängige zu eruieren. Die Kontrollvariablen (Alter, Geschlecht, Sprache, Siedlungsart) werden im Modell ebenfalls berücksichtigt, um allfällige Verzerrungen durch diese vermeiden zu können.
Die Sicht auf die Beziehung der Schweiz zur EU ist in dieser Befragungsserie geprägt von Stabilität und wenigen Verschiebungen über die Jahre. Die Frage der EU als Garantin für Frieden konnte sich nach dem Einbruch 2023 nur leicht erholen:
Wie in den vergangenen Befragungswellen sind jeweils grosse Mehrheiten der Stimmberechtigten der Meinung, es braucht ein Verfahren zur Streitbeilegung (85% voll/eher einverstanden, -1 Prozentpunkt), dass die Schweiz auf die EU angewiesen ist (81%, -3 Prozentpunkte) sowie, dass wir uns dank der bisherigen selektiven Übernahme von EU-Recht einen für die Schweiz zentralen Marktzugang sichern (76%, -3 Prozentpunkte).
Nachdem die Wahrnehmung der EU als Garantin für Frieden in Europa 2023 stark gesunken ist (-22 Prozentpunkte), hat sich dieser Zustimmungswert nur minimal erholt und erreicht 2024 58 Prozent (+3 Prozentpunkte).
Wenn es um die Verhandlung zwischen der Schweiz und der EU geht, gibt es wenig Verschiebungen in den abgefragten Aussagen. Einerseits ist weiterhin die Mehrheit der Meinung, die EU hat genug von den Spezialwünschen der Schweiz (58%, +3 Prozentpunkte).
Ebenfalls unverändert vermuten jeweils rund 40 Prozent der Stimmbevölkerung, dass die EU von sich aus nicht viel an den Verträgen ändern wird: Also sowohl weder die Personenfreizügigkeit neu verhandeln wird (41%, -1 Prozentpunkt) noch die Bilateralen kündigt (41%, +1 Prozentpunkt).
Die Vorstellung, die EU wird die Personenfreizügigkeit nicht neu verhandeln, ist mit Ausnahme der Anhänger:innen der GLP im politischen Spektrum relativ ähnlich und entsprechend minderheitlich ausgeprägt (GLP 54% voll/eher einverstanden). Auf der anderen Seite ist die Ansicht, die EU wird die Bilateralen nicht kündigen, in erster Linie im Lager der SVP (59%) und der Parteiungebundenen (54%) mehrheitsfähig und findet ansonsten am ehesten noch unter den Anhänger:innen der Mitte Unterstützung(44%). Dass die Bilateralen durch die EU nicht gekündigt werden ist in der Anhängerschaft der FDP (32%) und im Links-Grünen-Lager klare Minderheitsmeinung.
Sichtbar zugelegt haben hingegen die Ansichten, dass sich die Schweiz von der EU erpressen lässt (42%, +9 Prozentpunkte) und, dass die EU stärker auf die Schweiz angewiesen sei als umgekehrt (38%, +7 Prozentpunkte).
Die konkreten Elemente werden auch 2024 weiterhin unbestritten als Vorteil gesehen:
Wie in der letzten Befragungswelle liegt die Anerkennung von Diplomen und Ausbildungen an erster Stelle (85% eher/stark von Vorteil, -4 Prozentpunkte Prozentpunkte), gefolgt von der Möglichkeit ohne bürokratische Hürden überall in der EU arbeiten zu können (83%, -3 Prozentpunkte).
Auch in den flankierenden Massnahmen zur Personenfreizügigkeit (82%, -2 Prozentpunkte) und darin, dass Schweizer Unternehmen auf Arbeitskräfte aus der EU zugreifen können (80%, -5 Prozentpunkte) werden klar Vorteile gesehen.
Die Wiederaufnahme der Verhandlungen mit der EU wird in der Stimmbevölkerung klar befürwortet. In den Gesprächen mit der EU hat der Bundesrat aus Sicht der Stimmberechtigten durchaus einigen Spielraum, dazu gehört explizit auch der Schutz gegen Lohndumping. Dem in der Befragung skizziertem Vertrag würde dabei mehrheitlich zugestimmt werden.
Damit trifft ein solcher bilateraler Vertrag auf Basis des aktuellen Wissensstandes auf ein relativ breites Grundwohlwollen, dass andere denkbare Szenarien in der Zustimmungshöhe übertrifft. Trotzdem sind auch andere Szenarien aus der mehrheitlichen Sicht der Bevölkerung denkbar: In der aktuellen Befragungswelle vermag, anders als letztes Jahr, neben dem EWR-Beitritt auch die Weiterführung der Bilateralen ei-ne Mehrheit der Stimmbevölkerung zu überzeugen, dies sowohl auf Basis der bisherigen bilateralen Verträge ohne Anpassungsmöglichkeiten als auch wenn mit der Weiterentwicklung der Bilateralen die Übernahme von EU-Recht verbunden ist.
Grundsätzlich befürwortet die Schweizer Stimmbevölkerung die Wiederaufnahme der Verhandlungen über die Weiterentwicklung der bilateralen Verträge des Bundesrats mit der EU:
Fast vier von fünf Stimmbürger:innen finden es richtig, dass die Verhandlungen wieder aufgenommen werden (79% eher/sehr richtig), insgesamt 37 Prozent sogar sehr richtig. Ihnen stehen 16 Prozent gegenüber, die dies hingegen als falsch erachten.
Die Stimmberechtigten wären mit sämtlichen diskutierten Verhandlungspunkten mehrheitlich einverstanden. Der Zugang zu den grossen Europäischen Forschungsprogrammen erreicht dabei aber die höchsten Werte:
Der Zugang zu den Europäischen Forschungsprogrammen wird praktisch von sämtlichen Befragten befürwortet (91% sehr/eher einverstanden).
Jeweils vier von fünf Stimmberechtigten wären mit einem Stromabkommen mit der EU (80%), der gegenseitige Anerkennung von Produktvorschriften (80%) oder einem Kooperationsabkommen im Gesundheitsbereich (79%) einverstanden. Aber auch ein Abkommen zum Handel mit Lebensmitteln (70%) oder die Weiterführung des finanziellen Solidaritätsbeitrages (dem sogenannten Kohäsionsfonds) (60%) werden von jeweils klaren Mehrheiten befürwortet.
In den Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU wird die Schweiz womöglich Kompromisse eingehen müssen. Insgesamt hat die Verhandlungsdelegation hier allerdings durchaus Handlungsspielraum. Dabei sind Kompromisse aus Sicht der Bevölkerung durchaus möglich.
An erster Stelle wären aus Sicht der Bevölkerung dabei durchaus Kompromisse im Bereich Lohnschutz denkbar. (85% auf jeden Fall/eher bereit, +30 Prozentpunkte). An zweiter Stelle würde die Stimmbevölkerung am ehesten eine Öffnung des Schweizer Strommarkts in Betracht ziehen (63%). Gerade bei ersterem ist aber der Bezug zur Erfolgsgeschichte der Lohnschutzmassnahmen aus den bisherigen Verträgen zu ziehen: Dort sind Ängste vor Lohndumping explizit keine meinungsbildende Kraft Richtung Kritik, was wohl stark mit den funktionierenden flankierenden Massnahmen zu tun hat. Die Bevölkerung äussert mit der hier sichtbaren Kompromissbereitschaft damit sicher nicht den Wunsch nach komplettem Aufheben der Lohnschutzmassnahmen. Die Bevölkerung hält aber dezidiert fest, dass es auch in dieser Frage kein grundsätzliches Tabu gibt.
In den übrigen abgefragten Bereichen sind die Mehrheiten jeweils knapp, wobei eine kleine Mehrheit offen wäre für die Übernahme von EU-Recht im Rahmen bestehender Verträge, wenn dabei im Gegenzug das Referendumsrecht nicht ausgehebelt wird (55%, -10 Prozentpunkte) sowie den Europäischen Gerichtshofs bei Streitigkeiten zu Verträgen mit der EU anzuerkennen (50%, -5 Prozentpunkte), wobei beides aber in den vergangenen beiden Jahren an Zustimmung verloren hat. Auf der anderen Seite wäre nur eine Minderheit bereit, einen Kompromiss bezüglich der Übernahme der Unionsbürgerschaft einzugehen (47%, +16 Prozentpunkte). Hier ist hingegen die Akzeptanz eines Kompromisses seit letztem Jahr stark gestiegen.
Wenn nun ein neuer Vertrag zwischen der Schweiz und der EU mit sämtlichen besprochenen Elementen der Verhandlungen, also sowohl die möglichen Abkommen als auch die möglichen Kompromisse, beurteilt werden soll, würde dieser Vertrag von einer klaren Mehrheit befürwortet. Insgesamt wären 71 Prozent der Stimmberechtigten mit einem solchen Vertrag einverstanden. Auf der anderen Seite wären ein Viertel dagegen (25% eher/gar nicht einverstanden).
Insgesamt ist auch in dieser Fragestellung die Parteisympathie der Befragten ein wichtiges Erklärungsmerkmal, um die Einschätzung der Stimmberechtigten zu erklären. Das Muster ist aber ähnlich wie in der generellen Sicht auf die Bilateralen: Im Links-Grünen-Lager finden sich besonders hohe Zustimmungswerte (Grüne 84% voll/eher einverstanden; SP 88%; GLP 92%). Aber auch in den Anhängerschaften der Mitte (80%) und der FDP (83%) sind die Zustimmungsmehrheiten sehr hoch.
Dem gegenüber stehen die Anhänger:innen der SVP (50%) und Stimmbürger:innen ohne klare Parteipräferenz (47%), wo noch keine eindeutige Stimmungslage festzumachen ist.
In sämtlichen untersuchten Untergruppen in der Stimmbevölkerung ist die Zustimmung zurzeit mehrheitlich. In der Tendenz ist die Stimmung aber in der Deutschschweiz positiver (74%) als in der Romandie (66%) oder der italienischsprachigen Schweiz (53%). Weiter ist auch ein leichter Stadt-Land-Graben sichtbar, wobei die Zustimmung zum hypothetischen Vertrag mit steigender Siedlungsdichte zunimmt. Das heisst in ländlichen Gemeinden ist die Zustimmung vergleichsweise niedriger, aber mit 66 Prozent immer noch klar mehrheitlich, in kleinen und mittleren Agglomerationen entspricht die Zustimmung dem Schweizerischen Mittelwert (70%), und in den Städten (75%) ist der Wert leicht überdurchschnittlich. Nicht zuletzt ist die Zustimmung besonders unter den bereits pensionierten Stimmberechtigten besonders hoch (80%).
Bemerkenswert: Damit trifft ein solcher bilateraler Vertrag auf Basis des aktuellen Wissensstandes auf ein relativ breites Grundwohlwollen, dass andere denkbare Szenarien in der Zustimmungshöhe übertrifft. Trotzdem sind auch andere Szenarien aus der mehrheitliche Sicht der Bevölkerung denkbar: In der aktuellen Befragungswelle vermag, anders als letztes Jahr, neben dem EWR-Beitritt auch die Weiterführung der Bilateralen eine Mehrheit der Stimmbevölkerung zu überzeugen, dies sowohl auf Basis der bisherigen bilateralen Verträge ohne Anpassungsmöglichkeiten als auch wenn mit der Weiterentwicklung der Bilateralen die Übernahme von EU-Recht verbunden ist:
Wie in den vergangenen Befragungswellen steht auch 2024 eine Mehrheit der Stimmberechtigten einem EWR-Beitritt grundsätzlich positiv gegenüber (54% eher/bestimmt dafür, -6 Prozentpunkte). Die Zustimmung ist aber etwas tiefer als im Vorjahr.
Gestiegen ist hingegen die Unterstützung für die Weiterführung des bilateralen Wegs mit der EU: Die Weiterentwicklung der Bilateralen auch wenn damit eine Übernahme von EU-Recht verbunden ist, kann am stärksten zulegen und kann erstmals die 50-Prozent-Marke überschreiten (55%, +10 Prozentpunkte). Auch die Zusammenarbeit auf der Basis der bisherigen Bilateralen, auch wenn so Anpassungen an neue Marktentwicklungen oder neue Abkommen nicht mehr möglich sind, wird neu von einer knappen Mehrheit befürwortet (50%, +4 Prozentpunkte).
In der Gunst der Stimmbevölkerung weiter gesunken ist ein Freihandelsabkommen für Güter und Dienstleistungen inkl. Landwirtschaft anstelle der bilateralen Verträge[1] (37%, -9 Prozentpunkte). Anfangs der 2020er Jahre besass dieses Szenario jeweils noch die höchsten Zustimmungswerte. Augenscheinlich hat im Rahmen der zunehmenden Diskussion zu den Bilateralen 3 das Wohlwollen gegenüber dem Grundgedanken einer solchen Lösung an Fahrt gewonnen, während das reine Freihandelsabkommen wiederholt an Sukkurs verliert.
Die Extrempositionen EU-Beitritt und kompletter Alleingang der Schweiz ohne die Bilateralen bleiben auch in der aktuellen Befragungswelle ohne Chance in der Stimmbevölkerung, wobei ein komplettes Aufgeben der Bilateralen ohne konkrete Alternative etwas an Unterstützung zulegen konnte (20%, +7 Prozentpunkte) und somit zurzeit etwa gleichauf mit dem EU-Beitritt liegt (22%, +2 Prozentpunkte).
[1] In der Befragung 2024 wurde folgende Erklärung zum Freihandelsabkommen ergänzt: «Ein solches Freihandelsabkommen würde wohl auch beinhalten, dass die Schweiz die Grenze für Landwirtschaftsprodukte aus der EU wesentlich stärker öffnen müsste.»
Die Interpharma beauftragte das Forschungsinstitut gfs.bern mit der Durchführung der mittlerweile elften Befragungswelle in der Projektreihe „Standort Schweiz – Europafragen“. Hauptziel dieser Reihe ist, das Meinungsbild der Schweizer Stimmberechtigten rund um die bilateralen Verträge mit der EU auszuleuchten.
Das vorliegende „Wichtiges in Kürze“ soll interessierten Lesern einen schnellen Zugang zu den zentralen Erkenntnissen ermöglichen. Es umfasst alle relevanten Erkenntnisse aus der Erhebung zur Beziehung zwischen der Schweiz und Europa.
Die Ergebnisse der neuen Befragung in der Projektreihe „Standort Schweiz – Europafragen“ basieren auf einer repräsentativen Befragung von 2’000 Stimmberechtigten der Schweiz.
Nach 2023 wurde auch in der diesjährigen Befragungsserie ein mixed mode Verfahren angewendet. Dabei wurden 804 Interviews mittels computerunterstützten Telefoninterviews (CATI) erhoben sowie weitere 1’196 Interviews im Rahmen des gfs-Onlinepanels durchgeführt. Die Befragung fand zwischen dem 1. und dem 29. Juli 2024 statt.
Zur Korrektur soziodemografischer Verzerrung wurde entlang der Sprachregionen, nach Siedlungsart, nach der Bildung und nach Alter/Geschlecht gewichtet. Eine inhaltliche Gewichtung erfolgte entlang der Parteiaffinitäten und einer Recall-Frage zu einer vergangenen Abstimmung.
Das hier verwendete RDD/Dual-Frame-Erhebungsverfahren verlangte zudem eine Basisgewichtung mittels Wahrscheinlichkeiten der technischen Erreichbarkeiten aufgrund der Anzahl Telefonanschlüsse.