Herr und Frau Schweizer suchen geregelte Beziehungen zur EU

Standort Schweiz 2020 – Europafragen im Auftrag der Interpharma

Die Schweizer Stimmberechtigten stellen 2020 ungebrochen die Vorteile der bilateralen Verträge zwischen der Schweiz und der Europäischen Union in den Vordergrund, auch wenn die Corona-Krise dieses Bild leicht verändert hat. Um die Bilateralen nicht zu gefährden, wird die Begrenzungsinitiative aktuell mehrheitlich verworfen. Ein mögliches Rahmenabkommen mit der EU wird ohne Enthusiasmus begrüsst. Dies zeigt eine umfangreiche Befragung unter Schweizer Stimmberechtigten im Auftrag von Interpharma.

 

Zunahme ambivalenter Haltungen aufgrund Coronakrise

Das aktuelle Bild zu den bilateralen Verträgen bleibt grundsätzlich ein positives. Die sichtbar grösste Gruppe stellt die Vorteile der Verträge über die Nachteile. Nur eine klarminderheitliche Gruppe beurteilt dies mit umgekehrten Vorzeichen. Diese Einschätzung ist aber von zunehmender Ambivalenz geprägt, denn der Anteil Stimmberechtigter mit gleichzeitiger Vor- und Nachteilssicht beträgt neu mehr als ein Viertel.

Ursächlich ist die Coronakrise, denn die Stimmberechtigten der Schweiz beurteilen das Handeln der EU im Krisenmanagement nicht unkritisch: Wer der EU für ihr Verhalten während der Coronakrise ein schlechtes Zeugnis ausstellt, sieht die EU generell kritischer und würde in der Folge auch häufiger gegen das Rahmenabkommen und für die Kündigungsinitiative stimmen. Insgesamt überwiegt die Vorteilssicht deutlich, die Coronakrise führt sichtbar nicht zu einer kompletten Neuformierung der Einstellung gegenüber den Bilateralen.

Die Coronakrise fügt der europapolitischen Meinungsbildung eine neue Dimension hinzu, denn sie hat einen negativen Einfluss auf die Stimmung gegenüber den bilateralen Verträgen. 45 Prozent der Stimmberechtigten geben an, dass sich Ihre Haltung gegenüber den vertraglichen Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU ins nachteilige verändert hat.

Etwas mehr als ein Viertel der Stimmbevölkerung äussert sich aufgrund der Krise verstärkt positiv gegenüber den bilateralen Beziehungen.

Eine breite Palette an Akteuren im Europadiskurs geniesst mehrheitliches Vertrauen bezüglich der Europapolitik: Bundesrat und Parlament belegen die ersten beiden Plätze, gefolgt von Vertreter*innen der FDP, CVP und der Wissenschaft.

Auch der Bevölkerung spricht man europapolitische Kompetenz zu, wie auch den anderen Parteien, Gewerkschaften und Wirtschaftsverbänden. Kritischer steht man den Medien und der Auns gegenüber, denn diese werden mehrheitlich als nicht glaubwürdig eingeschätzt.

Auf der argumentativen Ebene haben der Anschluss der Schweiz an Forschungs- und Bildungsprogramme, der Exportzugang und die Mobilität an Wichtigkeit für die Stimmberechtigten gewonnen und erreichen Zustimmungswerte zwischen 80 und 90 Prozent. Das Fachkräftemangelargument und die Verbindung von Bilateralen und Wohlstand werden im Zeitverlauf stabil mehrheitlich positiv beurteilt. Auf der Gegenseite bleiben die bekannten kritischen Punkte gegenüber den Bilateralen: Die Meinung, dass durch die Personenfreizügigkeit die einheimischen Löhne unter Druck geraten, erreicht fast 70 Prozent Zustimmung und damit seit Beginn der Messung einen Höchstwert.

Überdurchschnittliche Zustimmung erhält die Aussage in der italienischsprachigen Schweiz (voll/eher einverstanden: 85%). Sinkende Unterstützung erhält die Aussage, dass die Zuwanderung eine Belastung für die Sozialwerke ist, das Argument bleibt aber mehrheitsfähig. Mögliche Auswirkungen auf Miet- und Immobilienpreise sowie die Wahrnehmung des Kontrollverlustes bei der Zuwanderung werden leicht tiefer als 2019 geteilt und erhalten keine absoluten Mehrheiten mehr. Nur noch etwa ein Fünftel der Stimmberechtigten ist der Meinung, dass die Schweiz nicht auf die bilateralen Verträge angewiesen ist. Im Vorjahr waren es noch mehr als ein Drittel der Stimmberechtigten.

Keine Mehrheiten für die Kündigungsinitiative

Die aktuell von der Corona-Pandemie geprägte öffentliche Diskussion hat bei der Kündigungsinitiative bisher wenig Dynamik ausgelöst und ihr insbesondere nicht zu einer breiteren Unterstützung im Stimmvolk verholfen: Derzeit wollen 29 Prozent der Befragten der Vorlage zustimmen.

Die Fronten sind immer noch klar: Die SVP-Anhängerschaft gegen den Rest. Nennenswert ist ein leichter Anstieg des JA-Lagers bei den Sympathisantinnen und Sympathisanten der CVP.

Das institutionelle Abkommen zwischen der Schweiz und EU ohne Enthusiasmus unterstützt

Wenn man aus einem bunten Strauss an Alternativen auswählen könnte, würden sich die Stimmberechtigten am ehesten für ein Freihandelsabkommen oder den EWR-Beitritt entscheiden. Sowohl das Rahmenabkommen als auch die nicht weiterentwickelbaren bisherigen Bilateralen werden demgegenüber leicht weniger gewünscht. Ein Alleingang der Schweiz oder ein EU-Beitritt sind nach wie vor klare Minderheitsmeinungen.

Im Direktvergleich mit anderen Szenarien lässt sich die aktuelle Zustimmung zum institutionellen Rahmenabkommen präzisieren – Das Rahmenabkommen ist kein enthusiastisch unterstütztes Wunschabkommen.

Präsentiert es sich aber bei einem Urnengang als einzig mögliche Option, ist es aktuell durchaus mehrheitsfähig. Augenscheinlich ist das Rahmenabkommen ein Vertrag, dem man aktuell zustimmt, weil man sich geregelte Beziehungen auf europäischer Ebene wünscht.

Der Kurzbericht kann hier bezogen werden.

Technischer Kurzbericht

Die Ergebnisse der siebten Befragung in der Projektreihe „Standort Schweiz – Europafragen“ im Auftrag der Interpharma basieren auf einer repräsentativen Befragung von 2’005 Stimmberechtigten der Schweiz. Die Befragung wurde zwischen dem 29. April und dem 6. Juni 2020 mittels computerunterstützten Telefoninterviews (CATI) durchgeführt. Befragt wurde anhand eines Random Digit Dialing (RDD)/Dualframe-Verfahrens via Festnetz und Handy.

Zur Korrektur soziodemografischer Verzerrung wurde entlang der Sprachregionen und nach Alter/Geschlecht gewichtet, eine inhaltliche Gewichtung erfolgte entlang der Parteiaffinitäten und einer Recall-Frage zu einer vergangenen Abstimmung.

Das hier verwendete RDD/Dual-Frame-Erhebungsverfahren verlangte zudem eine Basisgewichtung mittels Wahrscheinlichkeiten der technischen Erreichbarkeiten aufgrund der Anzahl Telefonanschlüsse.