2. SRG-Trendumfrage zur Abstimmung vom
28. November 2021

Vor der Schlussmobilisierung:

Pflegeinitiative - Mehrheit dafür bei Nein-Trend
Justiz-Initiative - Mehrheit dagegen bei Nein-Trend
Änderung Covid-19-Gesetz - Stabile Mehrheit dafür

Studie im Auftrag der SRG SSR

Wäre bereits am 7. November 2021 abgestimmt worden, wären die Pflegeinitiative und die Änderung des Covid-19-Gesetzes angenommen, während die Justiz-Initiative abgelehnt worden wäre. Die Stimmbeteiligung hätte bei überdurchschnittlichen 51 Prozent gelegen.



Die beiden Initiativen erfuhren in der Hauptphase des Abstimmungskampfes eine Polarisierung der Meinungsbildung zum Nein hin. Im Falle der Justiz-Initiative zeichnet sich ein handfester Nein-Trend ab, bei der Pflegeinitiative minderte dieser Trend die hohe Zustimmung lediglich. Die Stimmabsichten zu den Änderungen am Covid-19-Gesetz erweisen sich vordergründig als stabil. Die Trends in den Untergruppen spiegeln aber die auch in den Medien sichtbare Emotionalisierung der Lead-Vorlage vom 28. November 2021.

Alle Angaben gelten bei einer 95-prozentigen Wahrscheinlichkeit mit einem Unsicherheitsbereich von ±2.8 Prozentpunkten. Die Wahrscheinlichkeiten beziehen sich auf die Werte der aktuellen Befragung, nicht auf den Abstimmungsausgang am 28. November 2021.

Wie üblich handelt es sich auch bei der zweiten Befragung nur um eine Momentaufnahme und keine Prognose zum Abstimmungsausgang. Die Ergebnisse können im Wellenvergleich allerdings auch als Trends interpretiert werden.

Die Befunde der Umfrage werden anhand des Dispositionsansatzes von gfs.bern theoretisch verortet.

Hier finden sich Hintergrundinformationen zu den Vorlagen der November-Abstimmung und hier zur Methode der SRG-Trendumfragen.

Ausserdem können Sie hier die Präsentation der Resultate herunterladen und hier den aktuellen Abstimmungsmonitor des fög zur Mediensituation.

Übersichtsgrafik Stimmabsichten

Pflegeinitiative

Nein-Trend bei anhaltend deutlicher Ja-Mehrheit

Wäre am 7. November 2021 über die Volksinitiative „Für eine starke Pflege“ abgestimmt worden, wäre sie von zwei Dritteln der Teilnahmewilligen angenommen worden. 27 Prozent der Personen, die bestimmt teilnehmen wollen, wären gegen die Initiative gewesen und noch 6 Prozent unentschieden. Die Ja-Seite hat damit in Monatsfrist 11 Prozentpunkte (in der Folge ppt) verloren und die Nein-Seite 12 Prozentpunkte gewonnen. Der Trend ist in die für Initiativen übliche Richtung Nein. Allerdings: Wenn es bei einer ähnlichen Dynamik in den letzten drei Wochen bis zur Abstimmung wie im vergangenen Monat bleibt, dann wäre immer noch eine deutliche Mehrheit im Ja. Der Vorsprung der Ja-Seite bleibt gross.

Die Stimmberechtigten selbst gehen zu 79 Prozent von einer Annahme aus (+5 ppt). Im Mittel wird der Ja-Anteil für die Abstimmung am 28. November 2021 auf 57 Prozent geschätzt. Im Vergleich zur ersten Befragung wird trotz relevantem Nein-Trend bei den direkten Stimmabsichten noch deutlicher als in der ersten Befragung eine Annahme der Pflegeinitiative erwartet. Die Stimmungslage in der Bevölkerung spricht somit weiterhin für die Annahme.

Mittel-hoher Stand der Meinungsbildung

63 Prozent der bisher Mobilisierten haben bestimmte Absichten für oder gegen die Volksinitiative. Diese Stimmabsichten sind mit Argumenten weiterhin nicht gut erklärbar, was auf Spielraum für den Einfluss der Schlusskampagne auf die Unentschiedenen oder Personen mit wenig gefestigter Meinung hinweist.

Das Potenzial für einen Mehrheitswandel ist aber insofern beschränkt, als praktisch unverändert mit 47 Prozent (-1 ppt) annähernd die Hälfte der Teilnahmewilligen bestimmt für die Initiative stimmen wollen.

Vorläufiges Konfliktmuster: Ja-Mehrheiten in fast allen Gruppen

Trotz deutlichem Nein-Trend bleiben auch in der zweiten Befragung, bis auf eine Ausnahme, alle Untergruppen mehrheitlich im Ja. Die FDP-Anhängerschaft ist neu zu 55 Prozent gegen die Pflegeinitiative und bildet die Ausnahme. Somit zeichnet sich eine gewisse parteipolitische Konfliktlinie zwischen links und rechts ab. Zwar gibt es auch bei GLP, Mitte und SVP deutliche Nein-Trends, diese Gruppen sind aber erst je nur zu etwa einem Drittel gegen die Initiative und die Nein-Trends sind bisher nicht sehr deutlich. Eine Verstärkung dieser Trends ist eher noch bei der SVP wahrscheinlich, denn die SVP-Delegierten empfehlen im Gegensatz zu denjenigen der Mitte und zur GLP auch effektiv das Nein. Ansonsten ist die Konflikthaftigkeit der Vorlage gering. Etwas verstärkte Nein-Trends beobachten wir auf dem Land und in der deutschsprachigen Schweiz.

 

 

 

Die bereits in der Ausgangslage etwas kritischeren Einschätzungen von Personen, die in Haushalten mit den höchsten Einkommen leben, bestätigt sich. Aber selbst in diesen Haushalten, wo über 10’000 Franken Monatseinkommen erzielt wird, sind klare Mehrheiten für die Initiative.

Beide Geschlechter sind kritischer als im Vormonat. Die Mehrheit der Frauen für die Pflegeinitiative erscheint aber als recht gesichert, denn weiterhin ist eine Mehrheit der Frauen sogar bestimmt für die Initiative. Addiert wollen 71 Prozent (-10 ppt) der Frauen für die Initiative stimmen. Männer waren bereits zu Beginn etwas kritischer und sind noch zu 65 Prozent (-8 ppt) für die Initiative.

Argumente

Weiterhin sind die Pro-Argumente praktisch unumstritten, womit es für die Nein-Seite schwierig ist, den Lösungsvorschlag zu problematisieren. Vor allem wird weiterhin von über 80 Prozent bestätigt, dass der Druck mit Corona noch verstärkt wurde und deshalb mehr als Applaus nötig ist. Der Pflegenotstand sowie die Verbesserung der Arbeitsbedingungen wegen zu vielen Ausstiegen lassen sogar fast 90 Prozent der Stimmwilligen als Argumente für die Initiative gelten.

Alle drei Gegenargumente sind nun stärker in den Vordergrund gerückt, was an sich typisch für Initiativen ist. Zwei sind nun

 

knapp mehrheitsfähig: Die Verhinderung einer Sonderstellung einer Berufsgruppe in der Verfassung (55%) sowie der Verweis auf den Gegenvorschlag, der mit einer Milliarde die Pflege fördern will (50%). Beide Argumente sind nun auch stark relevant in der Meinungsbildung und dürften bis zum Schluss sogar noch mehr in den Vordergrund rücken. Die Schwächen werden bekannter, aber sie sind umstritten.

Mit der Beurteilung der sechs Argumente können erst 39 Prozent der Ja- und der Nein-Stimmen erklärt werden. Das ist ein unverändert ein tiefer Stand. Die Gegenargumentation ist eher komplex und das Covid-Gesetz prägt die laufende Debatte deutlich stärker.

Trend in der Meinungsbildung

Kritische Meinungstrends bei Initiativen sind üblich und sie können sich im Schlussverlauf der Meinungsbildung auch noch verstärken. Das hat eine bekannte Ursache: Gegen Schluss sehen immer mehr Menschen die Schwächen der Vorlage und nicht mehr das Problem, das die Initiative angehen will. Das erklärt, weshalb langfristig neun von zehn Initiativen scheitern. Unüblich ist jedoch bei der Pflegeinitiative nicht nur der sehr hohe Startvorsprung im Ja, sondern auch die allgemeine Anerkennung der Probleme in der Pflege. Das hat sich trotz mehr Zuspruch der Nein-Argumente auch überhaupt nicht verändert und der „Pflegenotstand“ wurde von der Nein-Kampagne auch nicht wirklich in Frage gestellt. Die Nein-Seite kann jetzt ansatzweise mit dem Gegenvorschlag und der Sonderstellung in der Verfassung überzeugend argumentieren, aber sie kämpft gegen eine Stimmung an, die für mehr Unterstützung in der Pflege spricht. Das nehmen auch die Befragten selbst so wahr, weil sie eine Annahme der Initiative erwarten.

 

 

 

Damit sprechen die Stimmabsichten, die Haltungen zu den Argumenten, der von den Stimmabsichten wahrgenommene Problemdruck, sowie das Konfliktmuster in den politischen Eliten und in der Bevölkerung insgesamt für eine Annahme der Initiative. Das Nein dürfte teilweise in konservativen Regionen vor allem in der deutschsprachigen Schweiz und insgesamt mit der Auseinandersetzung mit dem indirekten Gegenvorschlag weiterhin deutlich zulegen, aber eine Umkehr der Mehrheitsverhältnisse schweizweit wäre eine klare Überraschung.

Die Einflüsse der Schlussmobilisierung gerade in Kombination mit dem Covid-Gesetz bleiben aber schwierig einzuschätzen. Auch die dezidierte Gegnerschaft des Covid-Gesetzes will aber gemäss Umfrage deutlich mehrheitlich für die Pflegeinitiative stimmen.

 

 

Justiz-Initiative

Gegenwärtige Stimmabsichten: Trend zum Nein

Wäre Anfang November über die Justiz-Initiative abgestimmt worden, hätte neu aufgrund eines deutlichen Nein-Trends eine hauchdünne Mehrheit dagegen resultiert. Gestiegene 50 Prozent der Personen, die bestimmt teilnehmen wollen, hätten gegen die Initiative gestimmt, stabile 41 Prozent dafür. Vergleichsweise hohe 9 Prozent bleiben unentschieden.

Die Erwartungshaltung der Teilnahmewilligen in Bezug auf den Abstimmungsausgang hat sich kaum verändert. Zwei Drittel erwarten eine Ablehnung der Justiz-Initiative, 31 Prozent eine Annahme am 28. November 2021. Im Mittel wird der Ja-Anteil dabei auf 45 Prozent geschätzt.

Meinungsbildung bleibt zurück

52 Prozent der bisher Mobilisierten haben bestimmte Stimmabsichten für (20%) oder gegen (32%) die Justiz-Initiative. Das sind klar mehr als vor einem Monat (+13 ppt) aber auch klar weniger als bei den anderen beiden Vorlagen. Hohe 9 Prozent waren zum Befragungszeitpunkt noch gänzlich unentschieden. Das spricht für einen maximal mittleren Stand der Meinungsbildung.

Gestiegen ist jedoch die argumentative Verankerung individueller Stimmabsichten. Stimmentscheide werden stärker von argumentativen Haltungen getragen als noch vor einem Monat. Das mässig gefestigte Meinungsbild zur Justiz-Initiative verweist weiterhin auf Spielraum für Kampagnen, entsprechend sind weitere Veränderungen der Zustimmungswerte zu erwarten.

Vorläufiges Konfliktmuster: Regierungsvertrauen und Parteibindung im Zentrum

Das Konfliktmuster zur Justiz-initiative präsentiert sich akzentuierter als noch vor einem Monat, wo in den meisten Gruppen eine Pattsituation oder knappe Zustimmung das Bild prägte. Zwar bleiben einige Gruppen (relativ-)mehrheitlich für die Justiz-Initiative: Junge Teilnahmewillige, regierungsmisstrauische, italienischsprachige, solche mit Haushaltseinkommen von weniger als 3000 Franken, Sympathisant:innen der Grünen und Parteiungebundene.  Allen anderen untersuchten Untergruppen sind zwischenzeitlich jedoch (relativ-)mehrheitlich im Nein.

Parteipolitisch gesprochen bleibt es bei der Zustimmung aus dem Lager der Grünen. Diese ist jedoch nur noch relativer Natur und denkbar knapp. Im Umfeld der SP wich die ursprüngliche (knappe) Unterstützung innert Monatsfrist knapper Ablehnung. Weiter rechts im parteipolitischen Spektrum stieg die Ablehnung ebenfalls und zeigt sich nun mehrheitlich. Ausgenommen von diesem Nein-Trend sind SVP-nahe Teilnahmewillige und Parteiungebundene. In diesem Umfeld stieg die Zustimmung. Da die Zustimmung im SVP-Lager minderheitlich bleibt, resultiert einzig im Umfeld der Grünen ein Elite-Basis-Konflikt.

 

 

 

Deutlich sind die Unterschiede entlang des Regierungsvertrauens. Misstrauische befürworten die Justiz-Initiative mehrheitlich, Vertrauende lehnen sie mehrheitlich ab. Weiter bleiben die Stimmabsichten sozioökonomisch geprägt. Die Zustimmung sinkt mit dem Haushaltseinkommen. Bei den tiefsten Einkommen ist die Zustimmung deutlich gestiegen, in allen anderen Einkommensgruppen gesunken. Gerade umgekehrt verhält es sich mit der Schulbildung, denn die Ablehnung ist bei der tiefsten Bildungsschicht neu am höchsten.  Ausserdem sind Männer und ältere Stimmberechtigte kritischer mit dem Vorhaben als Frauen und Jüngere.

Regional betrachtet bleibt die Skepsis der Justiz-Initiative gegenüber in ländlichen Gebieten grösser, zwischenzeitlich resultiert aber in allen Siedlungsräumen ein (relatives) Nein. Erhöhte Sympathien für das Anliegen bestätigen sich in der italienischsprachigen Schweiz, aber nicht mehr in der französischsprachigen, wo der Trend eindeutig Richtung Nein verläuft. Gleiches gilt für die Deutschschweiz.

Argumente: Kritik am Losverfahren vs. Kritik an der Abhängigkeit von Parteien

Sechs Argumente wurden direkt zur Justiz-Initiative formuliert, wobei alle sechs mehrheitliche Unterstützung erfahren. Beide Seiten können folglich Mehrheiten argumentativ für sich gewinnen. Allerdings hat die Pro-Seite an Unterstützung ihrer Argumente eingebüsst, während die Nein-Seite mit dem Argument des bewährten Status-Quo stärker überzeugt als noch vor einem Monat (60% eher/voll einverstanden, +6 ppt). Die Initiant:innen überzeugen am breitesten mit dem Argument, dass das heutige Wahlverfahren die Wahl der besten Kandidat:innen verhindere, weil beispielsweise Parteilose von vornherein chancenlos seien (62% eher/voll einverstanden, -6 ppt).

Die Wirkungsanalyse der Argumente zeigt, dass die Meinungsbildung stärker von den Contra-Argumenten geprägt

 

 

wird. Dass mit dem Losverfahren nicht die fähigsten, sondern die Personen mit dem meisten Glück gewählt würden, was die demokratische Legitimation einer Richterwahl untergrabe, ist stärkster Grund für ein Nein und überzeugt stabile 53 Prozent der Teilnahmewilligen. Wirksamstes Argument der Initiant:innen ist, dass Richter:innen kaum unabhängig urteilen würden, wenn sie einer Partei angehörten und eine Nicht-Wiederwahl fürchten müssen (57% eher/voll einverstanden, -6 ppt).

Mit der Beurteilung aller sechs Argumente können 57 Prozent der Ja- und der Nein-Stimmen erklärt werden. Das ist ein mittlerer bis hoher Wert für die aktuelle Phase im Abstimmungskampf. Insgesamt sind die Stimmabsichten also gut von argumentativen Haltungen gestützt.

Trend in der Meinungsbildung

Die nach wie vor schwach akzentuierten Stimmabsichten und die vielen Unentschiedenen sprechen für eine, zu gewissen Teilen, noch ausstehende Meinungsbildung. Das wenig eindeutige Meinungsbild der Stimmberechtigten ist insofern überraschend, als dass die Meinungsbildung der politischen Eliten äusserst homogen gegen die Justiz-Initiative ausfiel.

Seitens der Stimmberechtigten existieren mehr Sympathien für das Anliegen, insbesondere im parteiungebundenen und regierungsmisstrauischen Umfeld, bei tiefen Einkommen und in der italienischsprachigen Schweiz. Doch auch in anderen Untergruppen bleiben trotz mehrheitlicher Ablehnung beträchtliche Ja-Anteile bestehen. Etwa bei Teilnahmewilligen unter 40 Jahren, Frauen, oder hoch Gebildeten.

 

 

Die Initiative überzeugt zwar mit ihrem Kernanliegen, das Losverfahren ist aber auch nicht über alle Zweifel erhaben und der Problemdruck offensichtlich nicht allzu stark. So ereilt die Justiz-Initiative das für Initiativen typische Schicksal: Die anfängliche Zustimmung bricht über den Kampagnenverlauf ein. Der Trend verläuft eindeutig Richtung Nein und verweist auf einen Regelfall der Meinungsbildung zu Initiativen. Startet eine Initiative, wie die hier vorliegende, bereits unter der 50 Prozent-Marke verheisst dieser Trend nichts Gutes für das Anliegen.

Darüber hinaus legen die Erwartungshaltungen der Stimmberechtigten selbst, die erkennbare Wirkung der Contra-Argumente und die geschlossene Position der politischen Eliten ein Nein zur Justiz-Initiative für den 28. November nahe.

Covid-19-Gesetz

Stimmabsichten stabil im Ja

Die Ja-Seite kann ihren Vorsprung in die Schlussphase des Abstimmungskampfes mitnehmen (23%, -2 ppt). Stabile 61 Prozent der Teilnahmewilligen hätten am 7. November 2021 für die Änderung des Covid-19-Gesetz gestimmt. Ebenfalls stabile 38 Prozent dagegen. 1 Prozent bleibt unentschieden. Trotz Stabilität des Meinungsbildes finden sich Hinweise auf erhebliche Polarisierung in verschiedenen Untergruppen.

Die Erwartung, dass die Änderungen am Covid-19-Gesetz angenommen werden, hat sich im laufenden Abstimmungskampf verfestigt (75% schätzen Ja-Anteil über 50%, + 6 ppt). Der erwartete Ja-Anteil für den 28. November 2021 fällt aber knapper aus, als die gemessenen Stimmabsichten. Im Mittel wird er auf 56 Prozent geschätzt (+3 ppt).

Fortgeschrittener Stand der Meinungsbildung

Gestiegene 84 Prozent äussern feste Stimmabsichten (+7 ppt), nur 1 Prozent zeigt sich noch unentschlossen. Auch die argumentative Abstützung der Stimmentscheide hat sich verfestigt. Das spricht für einen fortgeschrittenen Stand der Meinungsbildung.

Spielraum für Veränderungen ist nach wie vor vorhanden, wenn auch eher auf Mobilisierungseffekte begrenzt, denn grundsätzlich waren die Meinungen bereits vor einem Monat gefestigt.

Konfliktmuster: Impfstatus, Regierungsvertrauen und Parteibindung sind massgebend

Die parteipolitische Polarisierung zeigt sich im Vergleich zu vor einem Monat gar noch stärker akzentuiert. Vom linken politischen Pol bis hin zur FDP ist die Zustimmung zu den Änderungen am Covid-19-Gesetz solid und über den Abstimmungskampf angestiegen. Ganz anders bei SVP-affinen Teilnahmewilligen, wo die Ablehnung weiter angestiegen ist und sich nun dezidiert präsentiert. Diese Meinungsverstärkungen entsprechen den Erwartungen, denn die Parteiwählerschaften haben sich der Position ihrer jeweiligen Mutterpartei angenähert. Überraschend ist jedoch der Meinungswandel unter Parteiungebundenen. Sie sind neu mehrheitlich im Nein und somit dem gegnerischen Lager, bestehend aus SVP-nahen und regierungsmisstrauischen Teilnahmewilligen und solchen, die nicht gegen Corona geimpft sind, zuzurechnen. In der ersten Welle zeigten sich Teilnahmewillige, die sich noch impfen lassen wollen, gespalten. Auch sie gehören nun definitiv zum ablehnenden Lager.

Ausserhalb dieser fünf Gruppen gibt es zwar keine weiteren ablehnenden Untergruppen aber es zeigen sich Alters- und Schichtunterschiede in den Stimmabsichten und der dynamischen Entwicklung der Meinungsbildung.

 

 

 

So ist die Zustimmungsbereitschaft in der tiefsten Bildungsgruppe angestiegen, während sie bei den darüber liegenden leicht zurückgeht. Mehrheitlich bleibt sie aber in allen drei Bildungsgruppen.

Gestiegen ist die Zustimmung auch unter Pensionierten, während sich in den jüngeren Alterskohorten etwas mehr ablehnende Voten finden als noch vor einem Monat. Die Zustimmung der Jüngeren bleibt damit verhaltener als jene der Pensionierten. Rückläufig, wenn auch nach wie vor mehrheitlich, ist die Unterstützung der Änderungen am Covid-19-Gesetz ausserdem bei Frauen. Sie bleiben somit kritischer als Männer.

Unterschiedliche Dynamiken in der Meinungsbildung finden sich auch regional betrachtet. In der italienischsprachigen Schweiz ist die Zustimmung rückläufig, in der französischsprachigen steigt sie und in der deutschsprachigen Schweiz erweist sie sich als stabil. Es bleibt aber dennoch bei einem dreisprachigen Ja. Und trotz signifikant höherem Nein-Anteil in ländlichen Gebieten, bleibt es in allen Siedlungsräumen des Landes bei Ja-Mehrheiten.

Argumente: Zertifikat ist richtiger Weg vs. Änderungen gehen zu weit, massive Überwachung

Auch argumentativ behält die Befürworterschaft die Oberhand, denn ihre Argumente überzeugen nicht nur solide Mehrheiten, sie verfügt zurzeit auch über das wirksamste Argument für einen Stimmentscheid. Allerdings ist sie im Kampagnenverlauf etwas unter Druck geraten, denn ihre Argumente haben leicht an Zustimmung eingebüsst. Die Contra-Seite überzeugt jedoch nicht mehr als noch vor einem Monat.

Stabile 62 Prozent fürchten grossen Schaden, wenn Direkthilfen für Unternehmen, Selbständige und Angestellte verworfen würden. Das Covid-Zertifikat erachten gesunkene 61 Prozent als richtigen Weg, für eine schrittweise Rückkehr zur Normalität. Ebenfalls gesunkene 56 Prozent sind einverstanden, dass ein Zertifikat verhindere, dass es bei einer Zuspitzung der Lage in den Spitälern wieder strengere Massnahmen wie einen Lockdown brauche. Kritisch zeigen sich in Bezug auf die Pro-Argumente SVP-nahe, regierungsmisstrauische, parteiungebundene und ungeimpfte Teilnahmewillige.

Wenn die Gegnerschaft argumentiert, dass bestehende Gesetze ausreichen würden, um die Schweiz vor Covid-19 zu schützen,

 

 

unterstützen dies stabile 50 Prozent der Teilnahmewilligen. Dass aber die Zertifikatspflicht eine Zweiklassengesellschaft schaffe, wird nach wie vor von einer Mehrheit verworfen. Ebenso das dritte Contra-Argument, dass Änderungen zu weit gingen und zu massiver Überwachung führen würden. Die jüngsten Teilnahmewilligen aber auch solche mit Affinität zur SVP, Parteiungebundene und Ungeimpfte unterstützen alle Contra-Argumente mehrheitlich.

Die Kongruenz zwischen Stimmabsichten der Stimmbürger:innen und Haltungen zu den Argumenten ist hoch (Erklärungsgrad 74% (+39 ppt). Stimmentscheide zeigten sich Anfang November argumentativ viel besser abgestützt als noch im Oktober. Inhaltlich dominieren jedoch dieselben Argumentationslinien die individuellen Stimmabsichten:  Das Covid-Zertifikat wird grundsätzlich als richtiger Weg zur schrittweisen Rückkehr zur Normalität erachtet und trägt das Ja zu den Änderungen am Covid-19-Gesetz am stärksten. Zweifel an der Verhältnismässigkeit der Änderungen und Überwachungsängste befördern am stärksten ein Nein, sind aber nicht mehrheitsfähig.

Trend in der Meinungsbildung

Im Normalfall der Meinungsbildung zu einer Behördenvorlage gleichen sich die Stimmabsichten der Stimmbürger:innen über den Kampagnenverlauf an die Empfehlungen von Bundesrat und Parlament an. In der Mehrheit der untersuchten Untergruppen ist dies der Fall. Bei Jungen, Frauen, mittel oder hoch Gebildeten, in der deutsch- und italienischsprachigen Schweiz, im SVP-Umfeld, bei Regierungsmisstrauischen, Parteiungebundenen und bei Ungeimpften geschieht jedoch genau das Gegenteil. Die Nein-Anteile steigen. Über den Kampagnenverlauf hat sich Kritik breitgemacht und das nicht nur in jenen Gruppen, wo sie bereits in der ersten Welle vorhanden war (SVP-nahe, regierungsmisstrauische und ungeimpfte Teilnahemwillige).

Solch überraschende Entwicklungen waren wegen dem hohen Alltagsbezug der Corona-Pandemie und der Massnahmen dazu sowie der Tatsache, dass sich die pandemische Lage jederzeit ändern kann, zu erwarten. Sie erschweren jedoch die

 

Einschätzung des Abstimmungsausgangs. Hinzu kommt, dass Diskussionen rund um Corona, die Zertifikatspflicht und das Impfen emotional geführt werden, was eine hohe Dynamik im Abstimmungskampf zusätzlich begünstigt.

Vordergründig bleiben die Mehrheitsverhältnisse stabil, weil sich die Bewegungen in den Untergruppen in ihrer Summe aufheben. Nichts desto trotz finden sich mehr ablehnende Untergruppen als noch vor einem Monat. Die Vorlage polarisiert stärker als zu Beginn der Kampagnenphase.

Ganz ausgeschlossen werden kann eine Ablehnung der Änderungen am Covid-19-Gesetz nicht. Dazu sind nicht zuletzt die Entwicklungen der Pandemie selbst zu dynamisch. Eine Annahme der Änderungen am Covid-19-Gesetz ist aber klar wahrscheinlicher als eine Ablehnung. Denn neben dem stabil positiven Meinungsbild sprechen auch der Parolenspiegel, die Schlussabstimmungen in den Räten und der Ausgang der Vorgängerabstimmung vom Juni 2021 dafür.

Vorläufige Teilnahmeabsichten

Starke Mobilisierung aufgrund der zweiten Covid-Gesetz-Abstimmung

Die bisher gemessene Beteiligungsbereitschaft für den 28. November 2021 lag Anfang November mit 51 Prozent 10 Prozentpunkte höher als einen Monat zuvor. Die Debatte rund um das Covid-Gesetz wurde emotional und intensiv geführt und dürfte den Mobilisierungsschub ausgelöst haben.

Die Beteiligungsbereitschaft steigt in der Regel bis zum Abstimmungstag selbst, weshalb davon ausgegangen werden kann, dass sich an der Urne mehr Leute als die 51 Prozent zum Ausdruck bringen werden. Vor allem die Schlussmobilisierung

 

 

 

 

war in dieser Legislatur oft überraschend hoch. Dennoch wäre ein weiterer grosser Schub wie noch bei der ersten Covid-Abstimmung vom Juni überraschend, denn damals sorgten vor allem die Debatte über die agrarpolitischen Vorlagen für teilweise rekordhohe Teilnahmewerte in ländlichen Regionen.

Bestätigt sich aber eine Mobilisierung von über 50 Prozent, so dürfte das Jahr 2021 mit den höchsten mittleren Teilnahmewerten seit Einführung des Frauenstimmrechts in die Geschichte eingehen.

 

Profil der Beteiligungswilligen

Die Entwicklung der Beteiligungsabsichten bestätigt den Eindruck, dass die Emotionalität der Debatte um das Covid-Gesetz einen eigentlichen Ruck bei Personen auslöste, die typischerweise unregelmässig oder selten an Abstimmungen teilnehmen. Damit hat sich das Profil etwas ausgeglichen: Zwar wollen eher links positionierte Wählende, eher höher Gebildete, eher Ältere, und eher männliche Personen weiterhin leicht überdurchschnittlich teilnehmen, aber alle anderen Gruppen holen auf. Die Bedeutung der Vorlagen und der Abstimmung scheint nun vielen bewusst geworden zu sein.

Aufgrund der intensiven und emotionalen Debatte um das Covid-Gesetz sind regierungsmisstrauische und ungeimpfte Stimmberechtigte besonders interessant. In beiden Gruppen

 

 

sind die Teilnahmeabsichten angestiegen. Der Mobilisierungsschub des letzten Monats erfasste aber moderate Kreise noch stärker, denn Impfskeptische waren bereits früh mobilisiert. Zudem machen Geimpfte und Regierungsvertrauende in der Bevölkerung eine klare Mehrheit aus. Solange die Schlussmobilisierung also nicht sehr einseitig verläuft, sprechen höhere Teilnahmeraten eher für mehr Zustimmung zum Covid-Gesetz.

Die Mobilisierung ist aktuell in der deutschsprachigen Schweiz mit 52 Prozent gegenüber den anderen Sprachregionen (48%) leicht erhöht. Gestiegen sind die Teilnahmeabsichten jedoch flächendeckend. Die Themen der Abstimmung vom November 2021 bewegen alle Sprachregionen.

Zitierweise

Zweite Welle der SRG-SSR-Trendbefragung zu den Volksabstimmungen vom 28. November 2021 vom Forschungsinstitut gfs.bern. Realisiert zwischen dem 3. und dem 11. November 2021 bei 23’997 Stimmberechtigten. Der statistische Fehlerbereich beträgt +/-2.8 Prozentpunkte.

Methode und Datengrundlage

Der telefonische Teil der vorliegenden Befragung wurde vom gfs-Befragungsdienst realisiert, die Auswertung und Analyse der Daten nahm das Forschungsinstitut gfs.bern vor.

Befragt wurde via eines RDD-Dualframe-Verfahrens per Festnetz und Handy. Seit dem Herbst 2018 wird im Rahmen des SRG-Trend-Mandats die telefonische Umfrage durch eine Online-Befragung ergänzt, mit dem Ziel die Stichprobengrösse in der französisch- und italienischsprachigen Schweiz zu erhöhen. Der Online-Teil wurde als Opt-in-Befragung (Mitmachbefragung) über die Webportale der SRG SSR Medien realisiert.

Um sprachregionale Aussagen machen zu können, haben wir die Sprachminderheiten in der CATI-Befragung überproportional berücksichtigt. Diese wurden, um nationale Aussagen machen zu können, wieder ins richtige Verhältnis gebracht.

Keine Aussagen können wir über das Ständemehr machen, denn die Fallzahl lässt gesicherte Rückschlüsse auf die Kantone nicht zu.

Weiterführende Informationen zur Theorie und der Methode der SRG-Trendumfragen finden sich hier.

Technischer Kurzbericht

Auftraggeber: CR-Konferenz der SRG SSR
Grundgesamtheit: Stimmberechtigte Schweizer:innen
Herkunft der Adressen CATI: Stichprobenplan Gabler/Häder für RDD/Dual-Frame; Verwendung Swiss-Interview-Liste,
Herkunft der Adressen Online: Opt-in-Befragung über die Webportale der SRG SSR
Datenerhebung: telefonisch, computergestützt (CATI) und Online
Art der Stichprobenziehung CATI: at random/Geburtstagsmethode im Haushalt geschichtet nach Sprachregionen
Art der Stichprobenziehung Online: offene Mitmachumfrage
Befragungszeitraum: 3. – 11. November 2021
mittlerer Befragungstag: 7. November 2021
Stichprobengrösse: minimal 1’200, effektiv 23’997 (Cati: 1’215, Online: 22’782), n DCH: 20’014, n FCH: 3’374, n ICH: 609
Stichprobenfehler: ± 2.8 Prozentpunkte bei einem Wert von 50% (und 95%iger Wahrscheinlichkeit)
Quotenmerkmale CATI: Geschlecht/Alter interlocked
Quotenmerkmale Online: keine
Gewichtung: Dual-Frame-Gewichtung, Sprache, Siedlungsart, Parteiaffinität, Recall, Teilnahme
mittlere Befragungsdauer CATI: 14.7 Minuten (Standardabweichung: 3.4 Minuten)
Publikation: 17. November 2021, 6h00