2. SRG-Trendumfrage zur Abstimmung vom 25. September 2022

Vor der Schlussmobilisierung:

Massentierhaltungsinitiative - Mehrheit dagegen bei leichtem Nein Trend

Zusatzfinanzierung AHV - Trotz Nein Trend Mehrheit dafür

AHV 21 - Trotz Nein Trend Mehrheit dafür

Verrechnungssteuergesetz - relative Mehrheit dafür bei Nein Trend

Studie im Auftrag der SRG SSR

Wäre bereits am 4. September 2022 abgestimmt worden, wären die beiden Vorlagen der AHV-Reform angenommen worden. Eine knappe Mehrheit hätte die Massentierhaltungsinitiative verworfen. Eine relative Mehrheit hätte das Verrechnungssteuergesetz angenommen.



Alle vier Vorlagen erfuhren im Verlauf der Hauptkampagnenphase eine Polarisierung Richtung Nein. Für die Initiativen ist dies gemeinhin typisch, für Behördenvorlagen entspricht dies jedoch dem Ausnahmefall der Meinungsbildung.



Die Stimmbeteiligung hätte stabil bei durchschnittlichen 44 Prozent gelegen.

Wie üblich handelt es sich auch bei der zweiten Befragung nur um eine Momentaufnahme und keine Prognose zum Abstimmungsausgang. Die Ergebnisse können im Wellenvergleich allerdings auch als Trends interpretiert werden.

Alle Angaben gelten bei einer 95-prozentigen Wahrscheinlichkeit mit einem Unsicherheitsbereich von ±2.8 Prozentpunkten. Die Wahrscheinlichkeiten beziehen sich auf die Werte der aktuellen Befragung, nicht auf den Abstimmungsausgang am 25. September 2022. Der Abstimmungskampf und die Meinungsbildung setzen erst ein und können bei Volksabstimmungen nachweislich das Ja/Nein-Verhältnis beeinflussen. Hinzu kommen Effekte aus der noch unbekannten Mobilisierung durch die Kampagnen.

Die Befunde der Umfrage werden anhand des Dispositionsansatzes von gfs.bern theoretisch verortet.

Hier finden sich Hintergrundinformationen zu den Vorlagen der September-Abstimmung und hier zur Methode der SRG-Trendumfragen.

Ausserdem können Sie hier eine vollständige Grafiksammlung herunterladen.

Massentierhaltungsinitiative

Mehrheit dagegen bei leichtem Nein-Trend

Anfang September 2022 wäre die Massentierhaltungsinitiative knapp abgelehnt worden. 47 Prozent der Teilnahmewilligen bekundeten eine Ja-Stimmabsicht, 52 Prozent wollten dagegen stimmen. Der Rückgang ist im Monatsverlauf mit 4 Prozentpunkten (in der Folge ppt) beim Ja-Anteil nur gering. Das Nein legte um 6 Prozentpunkte zu.

Die Erwartungshaltungen der teilnahmewilligen Stimmberechtigten sind weiterhin deutlich kritischer als die Stimmabsichten. 72 Prozent erwarten ein Nein am 25. September 2022. Im Mittel wird der Ja-Anteil auf 45 Prozent geschätzt. Ein Nein zeichnet sich damit aus Sicht der Befragten deutlich ab.

Fortgeschrittener Stand der Meinungsbildung

76 Prozent (+11 ppt) sind entweder bestimmt für die Vorlage (35%) oder bestimmt dagegen (41%).

Mehr als drei Viertel der Stimmabsichten lassen sich auch mit den Argumenten gut nachvollziehen. Der Stand der Meinungsbildung ist damit fortgeschritten.

Klare Polarisierung zwischen Links und Rechts sowie Stadt und Land – Mittelstand wird kritischer

Die politische Polarisierung zwischen links und rechts fällt noch deutlicher als in der ersten Welle aus. Der Graben verläuft, wie das bei umweltpolitischen Gräben zu erwarten ist, zwischen GLP-Anhängerschaften und der Mitte. Über die SP, die Grünen bis zur GLP halten die Ja-Anteile. Bei der Mitte, der FDP und der SVP ist mit sehr deutlicher Ablehnung zu rechnen. Ausserdem sind Parteiungebundene gekippt. Aus der Mehrheit, die ursprünglich Ja oder eher Ja stimmen wollte, ist eine Mehrheit von 54 Prozent geworden, die nun Nein stimmen will.

Auf dem Land ist eine Mehrheit bereits bestimmt gegen die Initiative. 62 Prozent wollen gegen die Massentierhaltungsinitiative stimmen. Dennoch bleiben mit 36 Prozent Ja-Tendenz recht viele Sympathien selbst auf dem Land bestehen. Gekippt sind die Mehrheiten in kleinen und mittleren Agglomerationen, die neu zu 52 Prozent gegen die Vorlage stimmen wollen. In den grossen Agglomerationen sind die Mehrheiten weniger klar.

Zurzeit wollen 53 Prozent für die Initiative stimmen. Alles in allem zeichnet sich ein geringerer Stadt-Land-Graben als bei den agrarpolitischen Vorlagen vom Juni 2021 ab.

Nach Sprachregionen differenziert liegt das Nein überall vorne. Am geringsten ist der Rückgang in der deutschsprachigen Schweiz. Die Initiative hat im letzten Monat vor allem in der französischsprachigen und der italienischsprachigen Schweiz viel Unterstützung eingebüsst.

Der Mittelstand hat am wenigsten Sympathien für die Vorlage, und auch der Rückgang beim Ja-Anteil ist am höchsten. Zurzeit wollen noch 39 Prozent mit Berufsbildung für die Vorlage stimmen. Personen mit tiefer oder hoher Ausbildung sind viel stärker zwischen Ja und Nein gespalten. Das Nein legt aber auch in diesen Bildungsgruppen leicht zu.

Weiterhin wollen die Frauen noch knapp mehrheitlich für die Massentierhaltungsinitiative stimmen, während die Männer zu 59 Prozent bestimmt oder eher gegen die Initiative sind.

Wenig ausgeprägt fallen die Unterschiede bei den Stimmabsichten zur Massentierhaltungsinitiative nach Regierungsvertrauen und nach Alter aus.

Argumente: Nein-Seite legt zu

Inhaltlich wird die Massentierhaltungsinitiative leicht kritischer beurteilt, als dies bei den Stimmabsichten zum Ausdruck kommt. Ausserdem stehen nun die Schwächen der Vorlage im Vordergrund, wenn es für viele Stimmwillige in die entscheidende Phase vor dem eigentlichen Ausfüllen des Stimmzettels geht. Indexiert stehen 53 Prozent der Teilnahmewilligen der Gegnerschaft argumentativ näher und 44 Prozent der Befürworterschaft.

55 Prozent der Befragten stimmen zu, dass die Schweiz bereits heute eines der weltweit strengsten Tierschutzgesetze hat und es deshalb keine Verschärfung braucht.

Das ist das wirksamste Argument der Nein-Seite. Ausserdem ist der Verweis auf das bestehende Angebot mit verschiedenen Labels gerade für Parteiungebundene wichtig zur Erklärung ihrer kritischer gewordenen Haltung.

Die Ja-Seite punktet bei 47 Prozent, wenn sie auf Einschnitte in das Wohlbefinden und die Würde der Tiere verweist oder bei 44 Prozent, wenn sie mit der zukunftsfähigen Landwirtschaft argumentiert. Beide Argumente verlieren im Vergleich zum Vormonat an Rückhalt. Das Grundsatzargument gegen Massentierhaltung bleibt grundsätzlich von 63 Prozent der Teilnahmewilligen breit unterstützt, wirkt aber nur schwach meinungsbildend. 79 Prozent rechnen mit Mehrkosten wegen der geforderten Standards. Das Preisargument unterstützen beide Seiten, womit es am wenigsten meinungsbildend ist.

Trend in der Meinungsbildung

Die Massentierhaltungsinitiative hat ihre knappe Mehrheitsfähigkeit zu Beginn der Hauptkampagne im Kampagnenverlauf erwartungsgemäss verloren. Der Trend ist aber vergleichsweise schwach. Allerdings sind insbesondere weniger politisierte Kreise kritischer geworden, und die Nein-Seite legt argumentativ zu.

Auch die Erwartungshaltung ist kritischer geworden, womit alles andere als ein Fortschreiten des Nein-Trends eine Überraschung wäre.

Ausserdem erscheint die Hürde des Ständemehrs aus Sicht der Initiant:innen kaum noch überwindbar.

Wie stark der Nein Trend ausfällt, ist schwierig zu bewerten. Linke und umweltaffine Kreise könnten stark mobilisiert werden, womit ein Resultat von weit über 40 Prozent realistisch bleibt. Im Unterschied zu den agrarpolitischen Initiativen gibt es auf dem Land keine so klar sichtbare Polarisierung und die Initiative wurde in der Kampagne der Bäuerinnen und Bauern nicht als existenzielle Frage dargestellt. Umgekehrt gibt es bis in die Reihen der GLP viel Unterstützung.

AHV-Reform

Die AHV-Reform umfasst zwei Vorlagen: den Bundesbeschluss über die Zusatzfinanzierung der AHV durch eine Erhöhung der Mehrwertsteuer und die Änderung des Bundesgesetzes über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV-21). Die beiden Vorlagen sind miteinander verknüpft; wird eine der beiden abgelehnt, scheitert die ganze Reform. Der Fokus wird im Folgenden auf die Änderung des Bundesgesetzes über die Alters- und Hinterlassenenversicherung – kurz die AHV-21 – gelegt. Die Vorlage zur Mehrwertsteuer wird nur diskutiert, wenn sich relevante Abweichungen zeigen.

Gegenwärtige Stimmabsichten im Ja bei Nein-Trend

Genau drei Wochen vor der Abstimmung wären beide Vorlagen der AHV-Reform angenommen worden, der Trend der Meinungsbildung verläuft allerdings Richtung Nein. Gesunkene 59 Prozent (-5 ppt) der Stimmberechtigten mit fester Teilnahmeabsicht hätten für die AHV 21 gestimmt, gestiegene 38 Prozent dagegen (+5ppt). Der Erhöhung der Mehrwertsteuer hätten stabile 63 Prozent (-2ppt) zugestimmt, gestiegene 34 Prozent (+5ppt) hätten sie abgelehnt.

Die Erwartung der Teilnahmewilligen, dass beide Vorlagen an der Urne angenommen werden, hat sich innert Monatsfrist deutlich verfestigt: (68% (+12 ppt) respektive 69% (+14 ppt) schätzen den Ja-Anteil für die Abstimmung auf über 50%). Der erwartete Abstimmungsausgang ist aber knapper als die geäusserten Stimmabsichten. Im Mittel wird der Ja-Anteil für beide Vorlagen auf 52 Prozent geschätzt.

Fortgeschrittener Stand der Meinungsbildung

Deutlich gestiegene 73 Prozent der Teilnahmewilligen äussern feste Stimmabsichten zur AHV 21 (+13 ppt), stabile 3 Prozent zeigen sich noch unentschlossen. Bei der Erhöhung der Mehrwertsteuer zugunsten der AHV sind 68 Prozent fest entschieden (+17 ppt) und 3 Prozent unentschlossen (-3 ppt).

Deutlich erkennbar ist auch die argumentative Abstützung der Stimmentscheide (Erklärungsgrad der Regression: 76%).

Der Stand der Meinungsbildung ist damit fortgeschritten. Mit Veränderungen darf dennoch gerechnet werden, denn der Meinungsbildungsprozess und die Hauptkampagnenphase sind in vollem Gange.

Konfliktmuster: Politische Grössen, sprachregionale Prägungen und das Geschlecht im Vordergrund

Ein linkes Nein zu beiden Vorlagen der AHV-Reform zeichnet sich deutlicher noch als vor einem Monat ab. Auch parteiungebundene Teilnahmewillige stellen sich knapp gegen die AHV-Reform. Der Aufbau der Nein-Anteile erklärt sich aus den Entwicklungen in diesen Wählerschaften, denn bei Wähler:innen der Mitte-Parteien und rechts davon hält oder steigt der Ja-Anteil ohne Aufbau des Neins.

Die Ablehnung der AHV-21 aus den Reihen der Grünen und der SP ist nicht nur gestiegen, sie ist nun auch mehrheitlich. Die Zusatzfinanzierung über die Mehrwertsteuer erntet jedoch nach wie vor beachtliche Zustimmung aus ebendiesen Reihen (GPS: 50%, SP: 43% eher/bestimmt dafür).  Mit Ausnahme der Grünen bei der Mehrwertsteuer-Vorlage stehen damit sämtliche Parteibasen mehrheitlich auf Seiten ihrer jeweiligen Mutterpartei.

Wachsender Widerstand gegen die AHV-Reform zeigt sich in den lateinischsprachigen Gebieten der Schweiz. In der italienischsprachigen Schweiz präsentieren sich die Stimmabsichten zu beiden Teilen der AHV-Reform aufgrund eines deutlichen Nein-Trends nun gespalten (Zusatzfinanzierung: 48% Ja:47% Nein, AHV-21: 49% Ja:47% Nein).

In der französischsprachigen Schweiz steht die AHV-21 auf der Kippe (47:49), die Zusatzfinanzierung erfährt aber nach wie vor mehrheitliche Zustimmung (56:39).

Gestiegen ist die Ablehnung zudem bei Frauen, während sich das Ja der Männer konsolidiert. Mehrheitlich fällt das weibliche Nein jedoch nur zur AHV-21 aus (51% bestimmt/eher dagegen).

Deutlicher als noch im August erweist sich das Regierungsvertrauen als entscheidend: Wer der Regierung vertraut, ist klar für die Reform. Wer dagegen Misstrauen gegenüber der Regierung hegt, ist nun mehrheitlich dagegen.

Ausserhalb der benannten fünf Gruppen bleibt die Zustimmung trotz Nein-Trends fast überall mehrheitlich. Am Rande spielen aber sozioökonomische Grössen eine Rolle, wobei sich tiefere Einkommens- und Bildungsschichten kritischer zeigen als alle anderen. Nach Alter betrachtet, bleiben Pensionierte am deutlichsten für die beiden Vorlagen, während der Widerstand unter jüngeren Teilnahmewilligen gestiegen ist.

Argumente: keine Rentenaltererhöhung ohne gleichen Lohn vs. Reform sichert AHV ohne Rentenkürzungen

Die Befürworterschaft behält argumentativ die Oberhand, denn ihre Argumente überzeugen Mehrheiten, während die Contra-Argumente die Teilnahmewilligen spalten. Indexiert man die Haltungen zu den Argumenten stehen stabile 55 Prozent den Befürworter:innen näher und 41 Prozent den Gegner:innen. Diese Werte bewegen sich zwar noch immer unterhalb der festgehaltenen Stimmabsichten, bestätigen aber den Vorteil der Befürworterschaft. Relativiert wird er neben einem allgemeinen Nein-Trend auch durch die Regressionsanalyse, denn wirksamstes Argument für einen Stimmentscheid zur AHV-21-Reform ist ein gegnerisches.

Kein Pro-Argument hat damit relevant an Zustimmung eingebüsst. Hohe 62 Prozent bleiben der Ansicht, die AHV-Reform erhöhe die Solidarität zwischen den Generationen, da mit der höheren Mehrwertsteuer auch Pensionierte weiterhin ihren Beitrag zur Altersvorsorge leisten. Stabil finden 61 Prozent, es gebe keinen Grund, weshalb Frauen früher pensioniert werden sollen als Männer. Diese Aussage spaltet die Frauen (47%:49%), während Männer weitgehend damit einverstanden sind (74% eher/sehr einverstanden). Auch finden es nach wie vor 55 Prozent ungerecht, die AHV auf Kosten der nächsten Generation finanziell auszuhöhlen.

Und stabile 55 Prozent stimmen zu, dass die Reform die AHV sichere, ohne dass Renten gekürzt werden müssten.

Die Contra-Seite findet mehrheitliche Zustimmung, wenn sie argumentiert, Reform bestrafe Frauen doppelt, weil sie bereits heute einen Drittel weniger Rente erhielten als Männer (51% eher/sehr einverstanden). Für einen Stimmentscheid ist dieses Argument allerdings nur beschränkt wirksam. Leicht gesunkene 48 Prozent pflichten bei, dass die AHV-Reform Tür und Tor für weitere Erhöhungen des Rentenalters öffne (-4 ppt). Dann gehen die Meinungen zu den Contra-Argumenten stark auseinander. So sind 47 Prozent einverstanden respektive 49 Prozent nicht einverstanden mit der Aussage, dass eine Rentenaltererhöhung für Frauen nicht in Frage komme, solange Frauen weiterhin für die gleiche Arbeit weniger Lohn erhielten. Es handelt sich hierbei um das wirksamste Argument für einen Stimmentscheid und es überzeugt linke und parteiungebundene Wählergruppen, nicht aber die politische Mitte oder den rechten politischen Pol. Männer lehnen diese Aussage mehrheitlich ab (63% eher/überhaupt nicht einverstanden), Frauen stimmen ihr mehrheitlich zu (61% eher/sehr einverstanden). Zu guter Letzt beurteilen stabile 41 Prozent der Teilnahmewilligen die Reform als ungerecht, weil über die Mehrwertsteuer alle mehr zahlen würden, während gleichzeitig Leistungen gekürzt würden.

Trend in der Meinungsbildung

Mit dem Einsetzten des Hauptabstimmungskampfes wurde das Meinungsbild zu beiden Vorlagen der AHV-Reform verfestigt und polarisiert. Ein Nein-Trend hat eingesetzt, wobei die AHV-21 stärker unter Druck geriet als die Zusatzfinanzierung über die Mehrwertsteuer. Insbesondere Frauen, lateinischsprachige, linke und parteiungebundene Teilnahmewillige urteilen kritischer als noch vor einem Monat. Die Frauenfrage polarisiert und hat ein hohes Gewicht beim Stimmentscheid. Aber es gelang der Gegnerschaft bisher nicht, argumentativ umfassend die Oberhand zu gewinnen. Es bleibt bei mehrheitlicher Zustimmung zu beiden Vorlagen und die Erwartungshaltung der Stimmberechtigen, dass die Reform an der Urne erfolgreich sein wird, hat sich verfestigt. Der Sicherung der AHV ohne Rentenkürzungen kommt bei den Stimmentscheiden zu beiden Vorlagen eine hohe Priorität zu.

Die festgehaltene Dynamik der Meinungsbildung mit sinkendem Ja ist atypisch für eine Behördenvorlage, denn normalerweise steigt die Zustimmung, je näher der Abstimmungstermin rückt. Aufgrund des Vorsprungs der Ja-Seite, der Zustimmung in der Mehrheit der hier untersuchten Untergruppen und der argumentativen Haltungen scheint ein Volksmehr für die AHV-Reform wahrscheinlicher als ihre Ablehnung.

Zum Ständemehr und einem allfälligen Einfluss des nach der Umfrage gefassten Entscheidaufschubs der Sozialkommission des Ständerates zur Verbesserung der Situation von Frauen in der 2. Säule kann vorliegende Umfrage keine Auskunft geben. Sollte die lateinischsprachige Schweiz geschlossen Nein sagen, entspräche dies sieben Ständen im Nein. Mit weitern viereinhalb Ständen im Nein, würde die Reform am Ständemehr scheitern.

Änderung des Verrechnungssteuergesetzes

Relativmehrheitliche Zustimmung bei Nein-Trend

Anfang September hätten knappe 47 Prozent für die Änderung des Verrechnungssteuergesetzes gestimmt und 44 Prozent dagegen. Der Ja-Anteil verhielt sich stabil (-2 ppt), während die Ablehnung gestiegen ist (+9 ppt). Nach wie vor hohe aber gesunkene 9 Prozent sind unentschieden (-7 ppt).

Eine Mehrheit der Teilnahmewilligen schätzt den Ja-Anteil für die Abstimmung am 25. September 2022 auf über 50 Prozent ein (51%, -2ppt). Im Mittel wird er auf 51 Prozent geschätzt. Die Teilnahmewilligen gehen knapp von einer Annahme der Vorlage aus.

Mittlerer Stand der Meinungsbildung

60 Prozent haben eine feste Meinung zum Verrechnungssteuergesetz, unter ihnen sind knapp mehr Gegner:innen auszumachen (31% bestimmt dagegen, 29% bestimmt dafür). Der Stand der Meinungsbildung hat sich innert Monatsfrist entwickelt (+16 ppt fest Entschiedene), bleibt aber hinter jenem der anderen drei Vorlagen zurück. Entsprechend ist weiterhin mit Bewegung in den Stimmabsichten zu rechnen. Die Stimmabsichten sind mit Argumenten allerdings gut erklärbar, was den Spielraum für den Einfluss der Hauptkampagne auf Unentschiedene oder Personen mit wenig gefestigter Meinung reduziert.

Konfliktmuster primär politisch geprägt

Der Nein-Trend zur Verrechnungssteuervorlage zeigt sich in fast allen hier untersuchten Untergruppen (Ausnahmen: Männer, GLP-, Mitte- und FDP-Anhängerschaft). Die Zustimmung ist jedoch in 18 von 32 hier untersuchten Untergruppen (relativ-)mehrheitlich gegeben.

Parteipolitisch gesprochen folgen alle Wählerschaften mehrheitlich der Parole ihrer jeweiligen Mutterpartei. Die Meinungspole bilden dabei FDP-Sympathisant:innen (79% eher/bestimmt dafür) und SP-Sympathisant:innen (74% eher/bestimmt dagegen). Parteiungebundene zeigen sich kritisch.

Einfluss auf die Haltungen zum Verrechnungssteuergesetz üben zudem das Regierungsvertrauen, das Alter, das Einkommen und das Geschlecht aus. Klare Zustimmung findet das Verrechnungssteuergesetz bei Pensionierten, Männern, Teilnahmewilligen mit Vertrauen in die Regierung, tief Gebildeten und solchen mit den höchsten Einkommen; relativmehrheitliche Zustimmung zudem bei 40-64-Jährigen, mittel Gebildeten, bei Stimmberechtigten der zweithöchsten Einkommenskategorie und aus der deutschsprachigen Schweiz.

Auf (relativ-)mehrheitliche Ablehnung trifft das Verrechnungssteuergesetz bei jungen, weiblichen, SP- und Grüne-nahen sowie regierungsmisstrauischen Teilnahmewilligen. Gespalten zeigen sich Teilnahmewillige mit hoher Bildung, mittlerem Einkommen, aus kleinen bis grossen Agglomerationsgebieten Gebieten oder der französisch- und italienischsprachigen Schweiz.

Argumente: Arbeitsplätze und mittelfristig höhere Steuereinnahmen vs. ungerecht und Benachteiligung Normalbürger:in

Argumentativ überzeugt die Nein-Seite zwar breiter aber weniger entscheidwirksam. Indexiert stehen 49 (+1ppt) Prozent der Teilnahmewilligen den Argumenten der Gegnerschaft näher, 42 Prozent (+1ppt) jenen der Befürworterschaft und 9 Prozent (-2 ppt) bleiben indifferent. Die Wirkungsanalyse der Argumente bestätigt aber, dass die Meinungsbildung stark von der Befürworter:innen-Seite geprägt bleibt.

Das wirksamste Argument für die Verrechnungssteuerreform ist, dass sie zwar kurzfristig koste, aber bereits in wenigen Jahren zu höheren Steuereinnahmen führe (43% eher/voll einverstanden). Zweitstärkstes Argument ist gemäss Wirkungsanalyse, dass die Steuerreform Arbeitsplätze in der Schweiz schaffe und sichere, wovon auch die AHV und die IV profitieren würden (45% eher/voll einverstanden).

43 Prozent gehen zudem mit der Befürworterschaft einig, dass die Steuerreform Steuergeschenke von der Schweiz ans Ausland stoppe.

Stabile 60 Prozent gehen mit der Gegnerschaft einig, dass es ungerecht sei Unternehmen zu entlasten und Normalbürger:innen dafür zahlen zu lassen. Dieses Argument ist nicht nur mehrheitsfähig, sondern es wirkt auch am stärksten im Hinblick auf ein Nein. Es folgt das Argument, dass die Steuerreform wieder Unternehmen entlaste und am Ende nur noch Lohn, Rente und Konsum besteuert würden, welches ebenfalls eine stabile Mehrheit findet (53% eher/voll einverstanden). Leicht gestiegene 45 Prozent (+4ppt) finden zudem, dass der Abbau der Verrechnungssteuer Steuerkriminalität erleichtere und Schlupflöcher für Unehrliche schaffe.

Mit der Beurteilung dieser sechs Argumente können 69 Prozent der Ja- und der Nein-Stimmen erklärt werden. Das ist ein mittlerer bis hoher Wert für die aktuelle Phase der Kampagne.

Trend in der Meinungsbildung

Die Stimmabsichten, der Trend und die Haltungen zu den Argumenten sprechen insgesamt für ein ambivalentes und vergleichsweise wenig gefestigtes Meinungsbild zur Verrechnungsteuer. Zwar hält die Zustimmung knapp, der Trend geht aber Richtung Nein. Das entspricht dem Ausnahmefall der Meinungsbildung zu einer Behördenvorlage, denn im Normalfall verläuft die Meinungsbildung in Richtung der Position von Bundesrat und Parlament.

Gemäss der argumentativen Beurteilung ist Kritik relativ weit verbreitet und durch vergangene Abstimmungen aus demselben Themenbereich bereits aktiviert. Ein argumentativer Überhang der Contra-Seite bestätigt sich, ohne sich jedoch zu verstärken. Sollte die aktuell relativmehrheitliche Zustimmung des Mittelstandes und der lateinischsprachigen Schweiz wegbrechen, scheitert das Verrechnungssteuergesetz an der Urne. Ein knapper Entscheid zeichnet sich ab, wobei die Schlussmobilisierung entscheidend sein dürfte. Aufgrund der ambivalenten Signale zum Verrechnungssteuergesetz und der Knappheit der Mehrheit muss der Abstimmungsausgang weiterhin offengelassen werden.

Teilnahmeabsichten

Teilnahmeabsicht verharrt auf durchschnittlichem Niveau

Die bisher gemessene Beteiligungsbereitschaft für den 25. September 2022 lag Anfang September 2022 mit 44 Prozent weiterhin nahe am langjährigen Durchschnitt (46% zwischen 2011 und 2020). Eine aussergewöhnlich hohe Mobilisierung, wie sie sich bei den vier Abstimmungen im Jahr 2021 zeigte, zeichnet sich aktuell auch für die dritte eidgenössische Abstimmung im Jahr 2022 bis am 4. September 2022 nicht ab.

Vor allem aber blieb eine Mobilisierung durch die Kampagnen aus. Mobilisierungskampagnen haben während der Pandemiephase oft viel Kritik gegen die Behörden mobilisiert. In der zweiten SRG-Welle-Befragung stellen wir in einer wenig emotional geführten Kampagne weiterhin viel Unterstützung der behördlichen Positionen fest.

Profil der Beteiligungswilligen

Seit 2022 beobachten wir wieder eine eher erwartungsgemässe Struktur der Mobilisierung: Üblicherweise nehmen Ältere, besser Gebildete, politisch an ein Lager gebundene und Regierungsvertrauende mit höherer Wahrscheinlichkeit teil. Sofern die Debatte nicht noch breitere Kreise erfasst, dürfte das Muster der Teilnahme am 25. September 2022 ebenfalls dem entsprechen. Bemerkenswert ist die tiefe Mobilisierung der Frauen (39 % im Vergleich zu 49 % bei den Männern). In der Regel gleicht sich das aber noch aus. Da Frauen besonders stark von der AHV-Vorlage betroffen sind, dürfte ihre finale Mobilisierung höher ausfallen als zurzeit. Die Bemühungen der Bauernschaft scheinen eher zu funktionieren. Auf dem Land ist die Mobilisierung zwischenzeitlich gestiegen, erreicht aber mit 49 Prozent noch keinen Höchstwert. Tief mobilisiert sind bisher insbesondere Personen mit Berufsschulabschluss (22%) oder die SVP-Anhängerschaft (29%).

Unter 40-Jährige wurden über den Kampagnenverlauf mobilisiert, während ältere Stimmberechtigte eher weniger teilnehmen wollen als noch vor einem Monat.

Die Debatte um die Vorlagen reisst offenbar in der französischsprachigen Schweiz viel mehr Stimmberechtigte mit. In der deutschsprachigen Schweiz sinkt die Teilnahmebereitschaft von 44 auf 41 Prozent, was unüblich ist. In der französischsprachigen Schweiz steigt sie von 48 auf 50 Prozent und in der italienischsprachigen Schweiz von 40 auf 45 Prozent.

Weiterhin denkbar ist gerade in der deutschsprachigen Schweiz eine Polarisierung der Debatte mit zusätzlichen Mobilisierungseffekten in verschiedenen Gruppen. Diese Gruppen dürften aber offen für linke und rechte Argumente bei den verschiedenen Vorlagen sein. Damit könnte die Teilnahme in den Bereich von 50 Prozent steigen. Eine Rekord-Mobilisierung ist jedoch nicht zu erwarten.

Zitierweise

Zweite Welle der SRG-SSR-Trendbefragung zu den Volksabstimmungen vom 25. September 2022 vom Forschungsinstitut gfs.bern. Realisiert zwischen dem 31. August und dem 7. September 2022 bei 8’642 Stimmberechtigten. Der statistische Fehlerbereich beträgt +/-2.8 Prozentpunkte.

Methode und Datengrundlage

Der telefonische Teil der vorliegenden Befragung wurde vom gfs-Befragungsdienst realisiert, die Auswertung und Analyse der Daten nahm das Forschungsinstitut gfs.bern vor.

Befragt wurde via eines RDD-Dualframe-Verfahrens per Festnetz und Handy. Seit dem Herbst 2018 wird im Rahmen des SRG-Trend-Mandats die telefonische Umfrage durch eine Online-Befragung ergänzt, mit dem Ziel die Stichprobengrösse in der französisch- und italienischsprachigen Schweiz zu erhöhen. Der Online-Teil wurde als Opt-in-Befragung (Mitmachbefragung) über die Webportale der SRG SSR Medien realisiert.

Um sprachregionale Aussagen machen zu können, haben wir die Sprachminderheiten in der CATI-Befragung überproportional berücksichtigt. Diese wurden, um nationale Aussagen machen zu können, wieder ins richtige Verhältnis gebracht.

Keine Aussagen können wir über das Ständemehr machen, denn die Fallzahl lässt gesicherte Rückschlüsse auf die Kantone nicht zu.

Weiterführende Informationen zur Theorie und der Methode der SRG-Trendumfragen finden sich hier.

Technischer Kurzbericht

Auftraggeber: CR-Konferenz der SRG SSR
Grundgesamtheit: Stimmberechtigte Schweizer:innen
Herkunft der Adressen CATI: Stichprobenplan Gabler/Häder für RDD/Dual-Frame; Verwendung Swiss-Interview-Liste,
Herkunft der Adressen Online: Opt-in-Befragung über die Webportale der SRG SSR
Datenerhebung: telefonisch, computergestützt (CATI) und Online
Art der Stichprobenziehung CATI: at random/Geburtstagsmethode im Haushalt geschichtet nach Sprachregionen
Art der Stichprobenziehung Online: offene Mitmachumfrage
Befragungszeitraum: 31. August – 7. September 2022
mittlerer Befragungstag: 4. September 2022
Stichprobengrösse: minimal 1’200, effektiv 8’642 (Cati: 1203, Online: 7’439), n DCH: 6’645, n FCH: 1’608, n ICH: 389
Stichprobenfehler: ± 2.8 Prozentpunkte bei einem Wert von 50% (und 95%iger Wahrscheinlichkeit)
Quotenmerkmale CATI: Geschlecht/Alter interlocked
Quotenmerkmale Online: keine
Gewichtung: Dual-Frame-Gewichtung, Sprache, Siedlungsart, Parteiaffinität, Recall, Teilnahme
mittlere Befragungsdauer CATI: 15.1 Minuten (Standardabweichung: 3.4 Minuten)
Publikation: 14. September 2022, 6h00