Studie im Auftrag der SRG SSR
Wäre bereits am 18. Mai 2024 abgestimmt worden, wäre das Stromversorgungsgesetz angenommen worden, während die Freiheits-Initiative und die Kostenbremse-Initiative abgelehnt worden wären. Bei der Prämien-Entlastungs-Initiative hätte ein hauchdünnes Ja resultiert.
Bei allen vier Vorlagen ist der Nein-Anteil über den Kampagnenverlauf angestiegen, während sich die Ja-Anteile verringert haben. Bei den Initiativen entspricht dieser Nein-Trend dem erwarteten Normalfall der Meinungsbildung. Bei einer Behördenvorlage wie dem Stromversorgungsgesetz ist es eher der Ausnahmefall, allerdings ist dieser Nein-Trend nur schwach ausgeprägt.
Die Stimmbeteiligung liegt aktuell mit 48 Prozent nahe am langjährigen Durchschnitt (47.1% zwischen 2011 und 2022 gemäss BFS) und ist innert Monatsfrist nicht relevant angestiegen.
Wie üblich handelt es sich auch bei der zweiten Befragung nur um eine Momentaufnahme rund zwei Wochen vor dem Abstimmungstag und keine Prognose zum Abstimmungsausgang. Die Ergebnisse können im Wellenvergleich allerdings auch als Trends interpretiert werden. Die Studie beschreibt somit den Stand und die Trends in der Meinungsbildung vor der Schlussmobilisierung.
Alle Angaben gelten bei einer 95-prozentigen Wahrscheinlichkeit mit einem Unsicherheitsbereich von ±2.8 Prozentpunkten.
Die Befunde der Umfrage werden anhand des Dispositionsansatzes von gfs.bern theoretisch verortet.
Hier finden sich Hintergrundinformationen zu den Vorlagen der Juni-Abstimmung und hier zur Methode der SRG-Trendumfragen.
Ausserdem können Sie hier eine vollständige Grafiksammlung herunterladen und hier den aktuellen Abstimmungsmonitor des Forschungszentrum Öffentlichkeit und Gesellschaft (fög) zur Mediensituation im laufenden Abstimmungskampf..
Hauchdünner Ja-Vorsprung bei Nein-Trend
Mitte Mai 2024 wäre die Initiative «Maximal 10 Prozent des Einkommens für die Krankenkassenprämien (Prämien-Entlastungs-Initiative)» vom Volk knapp mehrheitlich angenommen worden. 50 Prozent der Teilnahmewilligen bekundeten eine mindestens tendenzielle Ja-Stimmabsicht. 48 Prozent wollten eher oder bestimmt dagegen stimmen. Es handelt sich unter Berücksichtigung des Stichprobenfehlers um eine Patt-Situation. Der Trend lief im Monat zwischen der ersten und der zweiten Befragung nicht zugunsten der Prämien-Entlastungs-Initiative. Der Rückgang bei der Zustimmung beträgt 6 Prozentpunkte (in der Folge ppt). Das Nein legte im gleichen Zeitraum um 8 Prozentpunkte zu.
Die teilnahmewilligen Stimmberechtigten gehen weiterhin von einer Annahme der Prämien-Entlastungs-Initiative aus. 54 Prozent (-5 ppt) erwarten ein Ja zur Initiative am 9. Juni 2024, 46 Prozent ein Nein. Im Mittel wird der Ja-Anteil auf 50.6 Prozent geschätzt. Die Stimmungslage verweist auf Annahmechancen, sie ist aber zurückhaltender als bei der AHV-Initiative, als bei der zweiten Befragungswelle (Februar 2024) noch 68 Prozent von einem Ja ausgingen.
Fortgeschrittener Stand der Meinungsbildung
35 Prozent sprechen sich bestimmt für die Initiative zur Prämienentlastung aus, 37 Prozent bestimmt dagegen. 72 Prozent sind fest entschieden, was ein stark erhöhter Wert ist. Zudem lassen sich nunmehr zwei Drittel der Stimmabsichten mit den Argumenten gut nachvollziehen, so dass der Stand der Meinungsbildung insgesamt als fortgeschritten bezeichnet werden kann. Spielraum für Kampagnen existiert weiterhin. Ausserdem kann ein später Mobilisierungsschub die Verhältnisse ebenfalls verändern.
Polarisierung zwischen Links und Rechts und Schichtabhängigkeit
Die Prämien-Entlastungs-Initiative wird unterschiedlich beurteilt, je nachdem welcher Partei sich die Befragten zugehörig fühlen. Die Trends verweisen auf eine erhöhte Polarisierung zwischen Links und Rechts.
Klar dafür sind die Anhängerschaften von Grünen und der SP. Dort legt das Ja auf sehr hohem Niveau sogar zu. Alle anderen Gruppen sind kritischer geworden. Für eine Mehrheit reicht es ausserhalb des linken Lagers nur noch bei Parteiungebunden. 54 Prozent in dieser Gruppe wollen zustimmen. Im Vormonat waren es 68 Prozent. Die Haltungen von GLP, Mitte, FDP und SVP haben sich zwischen der ersten und der zweiten Befragung gegen die Initiative verfestigt.
Sehr positiv beurteilen die Vorlage die tiefsten und tieferen Einkommensschichten und Personen ohne Berufsbildungsabschluss. Im mittleren Einkommens- und Bildungsbereich verliert die Initiative an Zustimmung, bleibt aber mehrheitsfähig. Erst in den höheren Einkommens- und Bildungsschichten wollen Mehrheiten gegen die Initiative stimmen. Regierungsmisstrauische neigen noch etwas stärker dem Ja zu als solche, die der Regierung vertrauen. Demnach sind Gruppen, die verstärkt und regelmässig an Abstimmungen teilnehmen, kritischer als solche, die eher aus einem spontanen Interesse heraus teilnehmen.
Die kritischste Altersgruppe sind zwischenzeitlich die 40-65-Jährigen. Die Gruppe im Rentenalter neigt nur noch knapp mehrheitlich dem Ja zu. Kein klarer Nein-Trend ist bei den Jüngeren bis 39 erkennbar. Sie wollen zu 53 Prozent für die Initiative stimmen.
Frauen sind deutlich kritischer geworden und wollen nur noch knapp mehrheitlich für die Initiative stimmen. Bei den Männern ist eine knappe Mehrheit zwischenzeitlich gegen die Initiative.
Mit Blick auf das Ständemehr sind die regionalen Unterschiede von grosser Bedeutung.
Es zeichnet sich ein starker Sprachgraben ab. Während in der deutschsprachigen Schweiz nur 43 Prozent für die Initiative stimmen würden, sind es in der französischsprachigen Schweiz 66 Prozent und in der italienischsprachigen Schweiz 69 Prozent. In lateinischen Sprachregionen scheint das Ja demnach als einigermassen gesichert.
Ein Stadt-Land-Graben ist nun deutlich erkennbar. Auf dem Land ist die Initiative wegen eines starken Nein-Trends nicht mehr mehrheitsfähig. In Agglomerationen und Städten bleiben die Chancen auf Ja-Mehrheiten dagegen intakt.
Auslandschweizer:innen äussern sich weiterhin positiver als Stimmwillige, die in der Schweiz wohnhaft sind. Der Nein-Trend ist aber unter Auslandschweizer:innen deutlicher. Noch 53 Prozent wünschen sich die vorgeschlagene Prämienentlastung.
Das Konfliktmuster ist akzentuierter als bei der Debatte über die 13. AHV-Rente, als der Altersgraben jeweils besonders im Fokus stand. Die Nein-Trends zeigen eher ein klassisches Muster von linken Initiativen. Typisch dafür sind neben der zunehmenden Polarisierung zwischen Links und Rechts auch die Trends bei den Frauen, bei älteren Stimmberechtigten und auf dem Land.
Argumente: Finanzielle Entlastung von Familien oder Belastung des Mittelstands?
Inhaltlich präsentiert sich die Ausgangslage zur Prämien-Entlastungs-Initiative besser als bei den Stimmabsichten. 56 Prozent stehen argumentativ dem Ja-Lager näher, 38 Prozent dem Nein-Lager. Tendenziell würden vor allem die Anhängerschaften der GLP und der Mitte deutlicher dem Ja zuneigen als dies bei den Stimmabsichten zum Ausdruck kommt. Die Parolen könnten in diesem Fall eine Wirkung zeigen.
Alle drei der hier getesteten Pro-Argumente ernten mehrheitliche Zustimmung und wirken wie intendiert auf einen Stimmentscheid.
Die grösste Wirksamkeit auf einen befürwortenden Stimmentscheid entfaltet das Argument, dass die Familien ebenso wie Personen mit mittleren Einkommen und Pensionierte profitieren. Obwohl das Argument etwas an Unterstützung verliert, stimmen weiterhin 64 Prozent zu.
63 Prozent unterstützen die Aussage, dass mit der Initiative der Druck auf die Politik steigt, weil sich der Kostendruck weg von den Prämienzahlenden entwickelt. Dies ist das zweitwirksamste Argument. Am meisten unterstützt wird das Argument des dringenden Handlungsbedarfes wegen der Kosten. 87 Prozent stimmen zu. Es ist aber nur das drittwirksamste Argument zur Erklärung der Stimmabsichten.
Die Finanzierungsfrage erklärt die Nein-Stimmabsicht aber auch mit. 58 Prozent sehen durch höhere Steuern zusätzliche Belastungen auf Familien und den Mittelstand zukommen. Dies bleibt insgesamt das wirksamste Argument auf die Meinungsbildung. Die beiden weiteren Nein-Argumente sind zwar wirksam und werden stärker unterstützt als einen Monat zuvor, sie werden aber nur von einer relativen Mehrheit unterstützt. 49 Prozent befürchten, dass die Sparanreize wegfallen. 48 Prozent unterstützen das Argument, dass sparsame Kantone weniger sparsame mitfinanzieren. 43 Prozent sehen das nicht so.
Trend in der Meinungsbildung
Typologisch handelt es sich bei der Initiative um eine positiv prädisponierte Vorlage. Gemessen am Verlauf mit einem Rückgang beim Ja entspricht dies aber einem häufig beobachteten Phänomen von Initiativen. Die Stimmberechtigten passen ihre Meinungen während der Kampagne einer Initiative den Empfehlungen von Bundesrat und Parlament an, da die Argumente der Gegnerschaft in der Debatte mehr Raum einnehmen. Es wird weniger über die Initiativ-Idee debattiert, sondern mehr über die Probleme der vorgeschlagenen Lösung. Zwar bremst der hohe Problemdruck bei den Krankenkassenprämien den typischen Effekt, aber die Patt-Situation verweist darauf, dass die Ja-Mehrheit am 9. Juni 2024 alles andere als gesichert ist.
Steht der Problemdruck – gerade was die Belastung von Familien und unteren Einkommensschichten betrifft – in der Debatte stark im Zentrum, kann dies die Effekte der Nein-Seite bremsen. Auch die angelaufene Diskussion um die Prämienerhöhungen für 2025 könnte ein Wendereignis in der Meinungsbildung provozieren.
Bis zum Schluss können solche Ereignisse Personen zur Teilnahme an den Abstimmungen motivieren, die mehr aus der Problemsicht heraus motiviert stimmen. Das war deutlich bei der 13. AHV-Rente der Fall, muss sich aber nicht wiederholen.
Wenn es zu einem knappen Volks-Ja kommt, braucht es auch das Ständemehr. Diese Hürde ist bei einem knappen Ja aufgrund der kantonalen Trends in den deutschsprachigen Kantonen namentlich auf dem Land für die Prämienentlastungs-Initiative hoch. Die Argumentation mit den unterschiedlichen Betroffenheiten von Kantonen bleibt bedeutsam, so dass regionale Befindlichkeiten bis zum Schluss mitentscheiden können. Aufgrund der kleinen Fallzahlen in den kleineren Kantonen der deutschsprachigen Schweiz beobachten wir drei Wochen vor dem Abstimmungstermin einige Patt-Situationen, womit viele Stände nicht eindeutig dem Ja- oder dem Nein-Lager zuzuordnen sind. Das Ergebnis würde zurzeit auch beim Ständemehr knapp ausfallen.
Gegenwärtige Stimmabsichten im Nein
Mitte Mai 2024 wäre die Volksinitiative «Für tiefere Prämien – Kostenbremse im Gesundheitswesen» abgelehnt worden. 54 Prozent der Teilnahmewilligen wollten die Vorlage bestimmt oder eher ablehnen. 41 Prozent waren eher oder sicher dafür. Die Verhältnisse haben sich mit einem Rückgang beim Ja von 11 Prozentpunkten und einer Zunahme beim Nein von 13 Prozentpunkten innerhalb nur eines Monats faktisch gekehrt.
Die teilnahmewilligen Stimmberechtigten erwarten ebenso eine Ablehnung der Kostenbremse-Initiative. 36 Prozent rechnen mit einer Zustimmung am 9. Juni 2024, 64 Prozent mit einer Ablehnung. Im Durchschnitt wird der Ja-Anteil auf 46,5 Prozent geschätzt.
Mittel fortgeschrittener Stand der Meinungsbildung
Insgesamt 57 Prozent sind fest entschlossen für oder gegen die Initiative, womit eine Mehrheit nun eine gefestigte Meinung hat. Weiterhin nur etwas mehr als die Hälfte der Stimmabsichten sind durch die Argumente gut nachvollziehbar, was auf einen insgesamt mittel fortgeschrittenen Stand der Meinungsbildung schliessen lässt. Spielraum für Kampagnen existiert weiterhin.
Die Mitte-Anhängerschaft und Unzufriedene hegen Sympathien für die Kostenbremse
Das Muster der Zustimmung und Ablehnung der Initiative ist weiterhin aussergewöhnlich. Die Anhängerschaften der Mitte unterstützen die Initiative der eigenen Partei mit 56 Prozent. Links und rechts der Mitte-Anhängerschaft ist die Unterstützung dagegen nur minderheitlich. Das Bild «alle gegen die Mitte» hat sich verfestigt, weil auch die Grünen das Anliegen nicht mehr mehrheitlich unterstützen. Etwas mehr Sympathien geniesst das Anliegen bei Parteiungebundenen. Allerdings ist der Rückgang von 70 Prozent Ja auf 49 Prozent Ja innerhalb eines Monat in dieser Gruppe sehr deutlich.
Auch Regierungsmisstrauische sind zwischenzeitlich gegen die Vorlage. Die Stimmungslage in Bezug auf die Prämien ist kein Faktor mehr zugunsten der Initiative.
Schichtabhängigkeiten zeigen sich weiterhin, allerdings ist die Initiative in keiner untersuchten Gruppe mehrheitsfähig.
Allerdings will eine relative Mehrheit von Personen aus Haushalten mit tiefsten Einkommen oder mit keiner abgeschlossenen Berufsbildung die Vorlage annehmen. Je mehr abgeschlossene Ausbildungen oder Einkommen, desto kritischer werden die Befragten mit der Initiative.
Regional betrachtet sind die Sprachunterschiede gewichtig, auch wenn die Initiative in allen Regionen an Unterstützung verliert. So unterstützt noch eine relative Mehrheit von 49 Prozent in der französischsprachigen Schweiz die Vorlage und in der italienischsprachigen Schweiz sogar eine Mehrheit von 55 Prozent. In der deutschsprachigen Schweiz sind noch 38 Prozent für die Vorlage. Die Unterschiede nach Stadt-Land sind kaum von Belang.
Die Altersunterschiede fallen weiterhin gering aus. Ältere Personen unterstützen die Initiative tendenziell etwas stärker, sind aber auch mehrheitlich dagegen. Frauen sind zwischenzeitlich noch kritischer als Männer mit der Initiative.
Argumente: Die Idee bleibt interessant, die Konsequenzen rücken aber in den Vordergrund
Die Kernidee der Initiative formuliert als Argument ist weiterhin mehrheitsfähig. 54 Prozent unterstützen das Argument, dass die Kostenbremse wirksam ist, weil sie alle Akteure des Gesundheitswesens an einen Tisch bringt. Sogar 56 Prozent unterstützen das Argument, dass kein Abbau zu befürchten ist, wenn medizinische Leistungen effizienter erbracht werden. Zustimmung und Ablehnung zum dritten Argument, wonach nur eine Kostenbremse die Belastung von Familien reduzieren kann, halten sich die Waage.
Alle drei Gegenargumente sind wirksam und für Mehrheiten überzeugend.
Die Schwächen sind demnach eher noch relevanter geworden. 72 Prozent beurteilen es als falsch, wenn die Gesundheitsversorgung an die Wirtschaftsentwicklung gekoppelt wird. 60 Prozent beurteilen die Koppelung an die Lohnentwicklung als zu starr und befürchten eine Rationierung. 55 Prozent befürchten, dass Bürokraten statt Fachpersonal über notwendige Eingriffe entscheiden.
Die indexierten Urteile über die sechs Argumente und die Stimmabsichten sind mittlerweile sehr ähnlich (Index 39% Ja, 52% Nein). Auch dies spricht dafür, dass die Schwächen in der Hauptkampagne in den Vordergrund traten, wie dies bei Initiativen oft der Fall ist.
Trend in der Meinungsbildung
Typologisch handelte es sich bei der Initiative um eine nur knapp positiv prädisponierte Vorlage. Der Normalfall der Meinungsbildung zu einer Initiative ist eingetreten: Die Stimmabsichten gleichen sich über den Kampagnenverlauf an die Empfehlungen von Bundesrat und Parlament an, weil gegnerische Argumente in der Debatte mehr Raum einnehmen.
Im Falle der Kostenbremse wirkt sich der Problemdruck bei den Prämien kaum noch auf die Meinungsbildung aus. Zwar kann man der Idee, die Gesundheitsakteure zwecks Kostenreduktion an einen Tisch zu bringen, viel abgewinnen. Allerdings stehen nun die Befürchtungen im Vordergrund, was an diesem Tisch gegen die eigene Gesundheitsversorgung und -autonomie konkret beschlossen werden könnte. Das spricht für eine Ablehnung der Kostenbremse-Initiative.
Gegenwärtige Stimmabsichten im Nein
Die Freiheits-Initiative wäre am 18. Mai 2024 noch deutlicher abgelehnt worden als noch vor einem Monat. Gesunkene 22 Prozent hätten die Freiheits-Initiative eher oder bestimmt angenommen. Gestiegene 75 Prozent hätten eher oder bestimmt dagegen gestimmt. Das Bild entspricht einem für Initiativen typischen Nein-Trend. Aufgrund der bereits von Beginn weg geringen Zustimmung fällt er allerdings vergleichsweise schwach aus.
Die Erwartungshaltung der Stimmberechtigen passt zu diesem Meinungsbild: Eine deutliche und gestiegene Mehrheit geht von einer Ablehnung an der Urne aus (84%). Nur noch 16 Prozent rechnen mit einer Annahme am 9. Juni 2024. Der antizipierte Mittelwert der Befragten liegt bei 37.5 (-5 ppt).
Fortgeschrittener Stand der Meinungsbildung
16 Prozent plädieren bestimmt für die Initiative und 65 Prozent bestimmt dagegen. Darüber hinaus ist die argumentative Begründung für die Stimmabgaben solide und 59 Prozent der Stimmabsichten lassen sich durch die Argumente nachvollziehen.
In der Kombination deutet dies auf eine vorbestimmte Abstimmung und einen fortgeschrittenen Stand der Meinungsbildung hin, was weniger Spielraum für Kampagnen- und Mobilisierungseffekte lässt.
Vorläufiges Konfliktmuster: Sämtliche Untergruppen mehrheitlich im Nein
Der schwache Nein-Trend findet sich in allen Untergruppen wieder. Das hat dazu geführt, dass die anfänglich mehrheitliche Unterstützung SVP-naher Teilnahmewilliger und die erhöhten Sympathien Parteiungebundener erodiert sind. Damit hätten am 18. Mai 2024 sämtliche Untergruppen mehrheitlich gegen die Freiheits-Initiative gestimmt.
Nichts desto trotz bleibt das Konfliktmuster am ehesten politisch geprägt. Regierungsmisstrauische Teilnahmewillige, solche die der SVP nahe stehen und Parteiungebundene sind die Gruppen, welche durch erhöhte aber minderheitliche Zustimmungsbereitschaft auffallen.
Im Umfeld der SVP zeichnet sich durch diese Entwicklung ein Elite-Basis-Konflikt ab, denn die SVP hat die Ja-Parole zur Freiheits-Initiative beschlossen.
Nach Sprachregionen differenziert ist die Zustimmung aus der italienischsprachigen Schweiz am meisten gesunken (-21 ppt). Damit ist die Zustimmung der deutschsprachigen Teilnahmewilligen nun am höchsten gefolgt von jener der französischsprachigen.
Am Rande spielen zudem Schichtvariablen eine Rolle: Die Zustimmung sinkt mit steigendem Bildungstand und steigendem Einkommen, ist aber auch in der tiefsten Einkommens- und Bildungsgruppe klar minderheitlich.
Argumente: Kein Verlass auf Politik vs. Grundrechte schützen Körper gegen Einwirkung durch Staat
Bei allen Teilnahmewilligen überzeugt die Contra-Seite mehrheitlich mit ihren Argumenten. Die Ansicht, dass die körperliche und geistige Unversehrtheit bereits in der Verfassung verankert sei, erweist sich stabil als besonders schlüssig für die Teilnahmewilligen (81% eher/voll einverstanden, +1 ppt). Verstärkt überzeugt die Argumentation, wonach die Forderungen der Initiative weit über die Frage des Impfens hinaus gingen, was Rechtsunsicherheiten in Bezug auf den Strafvollzug zur Folge habe (65%, +9 ppt). Leicht gesunkene 60% (-3 ppt) anerkennen die Bedeutung einer Impfpflicht im Fall einer erneuten Epidemie zur Verhinderung strengerer Schutzmassnahmen.
Die Pro-Argumente vermögen weniger zu überzeugen und nur eines trifft noch auf mehrheitliche Unterstützung (52%, -3 ppt): Dass ein Mensch nur frei sei, wenn er selbst bestimmen könne, was in seinen Körper komme und nicht die Politik.
Doch weder die Argumentationen einer drohenden Zweiklassengesellschaft (36%, -3 ppt) noch jene der unzuverlässigen Politik in Bezug auf körperliche und geistige Unversehrtheit im Covid-Kontext (32%, -4 ppt) vermögen eine Mehrheit zu überzeugen. Die Meinungen sind hierbei fest verankert.
Gerade jene Argumente, welche niedrige Zustimmungswerte erhalten, zeigen sich als besonders wirksam um das Stimmverhalten zu erklären. Wer körperliche und geistige Unversehrtheit durch die Verfassung als geschützt erachtet, ist gegen die Freiheits-Initiative. Dieses Argument hat über den Kampagnenverlauf seine Wirkung stärker entfaltet. Wer hingegen Zweifel an der Politik im Zusammenhang mit der Covid-Pandemie hegt, ist geneigt am 9. Juni 2024 ein Ja in die Urne zu legen. Das war von Beginn weg das stärkste Argument für die Vorlage.
Trend in der Meinungsbildung
Nicht nur liegen die Zustimmungswerte auf tiefem Niveau und erwarten die Teilnahmewilligen selbst, dass die Vorlage an der Urne scheitert. Auch argumentativ spricht wenig für die Freiheits-Initiative. Sämtliche verfügbaren Indikatoren haben sich über den Kampagnenverlauf Richtung Nein entwickelt. Eine breite Abstützung in der Bevölkerung fehlt damit gänzlich. Und mit Ausnahme der SVP stellen sich auch die politischen Eliten gegen das Vorhaben.
Dieses Bild entspricht einer negativ prädisponierten Initiative. Mit dem eingesetzten Nein-Trend ist der Normalfall der Meinungsbildung zur eine Initiative eingetreten.
Bei der vorgefundenen Ausgangslage und dem festgehaltenen Trend wäre alles andere als die Ablehnung der Freiheits-Initiative am 9. Juni 2024 eine grosse Überraschung.
Gegenwärtige Stimmabsichten im Ja
Rund 3 Wochen vor der Abstimmung hätten stabile 73 Prozent bestimmt oder eher für das Bundesgesetz über eine sichere Stromversorgung mit erneuerbaren Energien gestimmt, leicht gestiegene 24 Prozent eher oder klar dagegen. Dynamisch betrachtet entspricht dies einer schwachen Polarisierung Richtung Nein. Bemerkenswert ist aber auch der gestiegene und hohe Anteil dezidierter Befürworter:innen des Stromversorgungsgesetzes (54% bestimmt dafür, +8 ppt). Der Anteil Unentschiedener ist auf 3 Prozent gesunken (-3 ppt).
Die Erwartung einer Annahme des Stromversorgungsgesetzes am 9. Juni 2024 hat sich innert Monatsfrist verfestigt: Der Ja-Anteil für den Abstimmungssonntag wird im Mittel auf 56 (+1 ppt) Prozent geschätzt. 82 Prozent der Teilnahmewilligen gehen von einer Annahme aus (+5 ppt), gesunkene 18 Prozent von einer Ablehnung (-5 ppt).
Fortgeschrittener Stand der Meinungsbildung
Deutlich gestiegene 70 Prozent äussern feste Stimmabsichten (+13 ppt). Zudem lassen sich hohe 73 Prozent der Stimmabsichten anhand der Positionen bei den Argumenten erklären.
Auch wenn durch Kampagnen- oder Mobilisierungseffekte weiterhin gradueller Spielraum für Veränderungen in den Stimmabsichten existiert, ist der Stand der Meinungsbildung als fortgeschritten zu taxieren. Das Meinungsbild präsentiert sich gefestigt.
Vorläufiges Konfliktmuster primär politisch aufgeladen
In den untersuchten Untergruppen entspricht die Entwicklung der Stimmabsichten fast überall dem allgemeinen Muster eines komfortablen Ja-Anteils trotz schwachem Nein-Trend. Dabei ist die Zustimmungsneigung bei Männern, Stimmberechtigten aus nicht ländlichen Gebieten und solchen mit mittleren bis hohen Einkommen noch ausgeprägter, als jene ihrer Gegengruppen.
Kritik am Stromversorgungsgesetz hat sich jedoch im Umfeld der SVP aufgebaut. SVP-nahe Teilnahmewillige bilden als einzige ablehnende Untergruppe den anderen Pol des Meinungsspektrums: 53 Prozent von ihnen hätten das Stromversorgungsgesetz am 18. Mai 2024 verworfen (+5 ppt), 43 Prozent hätten es angenommen (-3 ppt). Alle anderen Parteiwählerschaften hätten das Stromversorgungsgesetz angenommen, am deutlichsten Teilnahmewillige aus dem links-grünen Umfeld.
Damit stehen alle Parteiwählerschaften in ihrer eindeutigen Mehrheit auf Seiten der Position ihrer jeweiligen Mutterpartei.
Zunehmend gespalten zeigen sich aber regierungsmisstrauische Teilnahmewillige: Gesunkene 49 Prozent von ihnen hätten das Stromversorgungsgesetz Mitte Mai angenommen (-9 ppt), 47 Prozent hätten es verworfen (+11 ppt). Damit bleiben die relevantesten Konfliktlinien politischer Natur.
Mit 26 Prozent Nein-Anteil ist die Kritik regional betrachtet in der deutschsprachigen Schweiz am ehesten formiert. In der französischsprachigen Schweiz wollen 74 Prozent bestimmt oder eher Ja stimmen und in der italienischsprachigen Schweiz 80 Prozent.
Argumente: Unerlässlicher Schritt für Energiewende vs. schadet Umwelt und Landschaftsbild
Die Beurteilung der Argumente erweist sich als weitgehend stabil. Wir bereits vor einem Monat sind alle drei Ja-Argumente sehr breit abgestützt: Dies betrifft die Reduktion der Auslands-Abhängigkeit, die Risikoreduktion wegen internationaler Konflikte und der nötige Schritt zur Energiewende. Und ebenfalls wie vor einem Monat kann nur ein Nein-Argument eine Mehrheit überzeugen, nämlich, dass die Schweiz ihren Strombedarf nicht ausschliesslich mit erneuerbaren Energien abdecken kann. Der potenzielle Schaden an Umwelt und im Landschaftsbild und die Aushebelung der bewährten Beschwerderechte sind weiterhin keine mehrheitsfähigen Argumente.
Indexiert stehen 71 Prozent argumentativ der Ja-Seite näher, 25 Prozent der Nein-Seite. Diese Werte sind kongruent mit den geäusserten Stimmabsichten. Argumentative Haltungen und Stimmabsichten stimmen somit hochgradig überein. Das bestätigt auch die Regressionsanalyse, welche eindeutig auf inhaltlich fundierte Stimmentscheide verweist (Erklärungsgrad Regressionsmodell: 73%). Die Ja-Mehrheit fusst inhaltlich primär auf der Notwendigkeit des Gesetzes auf dem Weg zur Energiewende respektive der Reduktion eines Risikos von Stromengpässen. Das Argument, dass erleichterte Planungsbedingungen für Wasserkraftwerke, Wind- und Solaranlagen der Umwelt und dem Schweizer Landschaftsbild schaden, dient als wichtigste Erklärungsgrösse für ein Nein.
Trend in der Meinungsbildung
Beim Stromversorgungs-Gesetz handelt es sich um eine positiv prädisponierte Behördenvorlage, was Befürworter:innen einen wichtigen Startvorteil verschaffte. Dieser Vorsprung der Ja-Seite bestätigt sich in der zweiten Trendumfrage, das Nein ist zeitgleich nur schwach angestiegen. Die geäusserten Stimmabsichten sind gefestigt, das Meinungsbild stabil und quasi flächendeckend im Ja. Die einzige namhafte Opposition kommt aus dem SVP-Umfeld.
Die Stimmberechtigten selber gehen von einer Annahme der Vorlage aus und stehen auch inhaltlich hinter dem Stromversorgungsgesetz. Die Stimmabsichten stimmen mit den Haltungen zu den Pro- und Contra-Argumenten überein, weil eine klare Mehrheit das Stromversorgungsgesetz als notwendigen Schritt für die Energiewende erachtet. Inhaltlich wirksame Kritik gibt es rund um den Umwelt- und Landschaftsschutz.
Anzeichen dafür, dass die Gegnerschaft über den Kampagnenverlauf die Oberhand gewinnen konnte, finden sich beschränkt im Umfeld der SVP und in regierungsmisstrauischen Kreisen. Damit hat eine leichte Polarisierung Richtung Nein eingesetzt, die jedoch nicht über die benannten Gruppen hinausgeht.
Ein Ja zum Stromversorgungs-Gesetz bleibt bei der vorgefundenen Ausgangslage, dem Trend der Meinungsbildung, dem Konfliktmuster und dem Parolenspiegel das wahrscheinlichste Szenario für den 9. Juni 2024.
Teilnahmeabsicht für die Abstimmung vom 9. Juni 2024 bleibt durchschnittlich
Die bisher gemessene Beteiligungsbereitschaft für den 9. Juni 2024 liegt mit 48 Prozent nahe am langjährigen Durchschnitt (47.1% zwischen 2011 und 2022 gemäss BFS).
Mit der Schlussmobilisierung im Kampagnenverlauf könnte der Wert noch etwas ansteigen, so dass eine durchschnittliche bis leicht überdurchschnittliche Teilnahme am Urnengang vom 9. Juni 2024 zu erwarten ist.
Profil der Beteiligungswilligen
Über die Hauptkampagnenphase hinweg wurden primär Junge, Stimmberechtigte mit Vertrauen in die Regierung, solche mit Haushaltseinkommen zwischen 7000 und 11000 CHF und Männer mobilisiert. Demobilisierungstendenzen finden sich dagegen bei Stimmberechtigten mit tiefen bis mittleren sowie den höchsten Haushaltseinkommen, bei Hochgebildeten und bei Regierungsmisstrauischen. Weiterhin bekunden jedoch ältere, höher gebildete und besser verdienende Stimmberechtigte sowie Männer erhöhte Teilnahmeabsichten. Sofern die Debatte nicht noch verstärkt weitere Kreise erfasst, dürfte das Muster der Teilnahme am 9. Juni 2024 dem jetzigen naheliegen.
Regional betrachtet stagniert die Teilnahmeabsicht der Deutsch- und Italienischsprachigen, während französischsprachige Stimmbürger:innen leicht verstärkt teilnehmen wollen.
Mobilisiert wurden auch Stimmberechtigte, die in kleinen oder mittleren Agglomerationen leben. Solche aus ländlichen oder urbanen Gebieten wurden eher demobilisiert.
Politisch gesprochen bleiben Stimmberechtige, die links-grünen Parteien (Grüne, SP und neu auch GLP) nahestehen, stärker mobilisiert als andere parteipolitische Lager. Am tiefsten fällt die Mobilisierung von Parteiungebundenen aus. Unter dem Mittel liegen die Teilnahmeabsichten von Stimmberechtigten mit Parteiaffinität für die Mitte, die FDP oder die SVP.
Da weder insgesamt, noch in der Gruppe der Parteiungebundenen oder der Regierungsmisstrauischen Mobilisierungsschübe zu erkennen sind, ist für den 9. Juni 2024 von einer Regelbeteiligung nahe am Mittelwert der letzten Jahre ohne übermässiges Protestpotenzial auszugehen.
Zweite Welle der SRG-SSR-Trendbefragung zu den Volksabstimmungen vom 9. Juni 2024 vom Forschungsinstitut gfs.bern. Realisiert zwischen dem 13. und dem 22. Mai 2024 bei 12’279 Stimmberechtigten. Der statistische Fehlerbereich beträgt +/-2.8 Prozentpunkte.
Der telefonische Teil der vorliegenden Befragung wurde vom gfs-Befragungsdienst realisiert, die Auswertung und Analyse der Daten nahm das Forschungsinstitut gfs.bern vor.
Befragt wurde via eines RDD-Dualframe-Verfahrens per Festnetz und Handy. Seit dem Herbst 2018 wird im Rahmen des SRG-Trend-Mandats die telefonische Umfrage durch eine Online-Befragung ergänzt, mit dem Ziel die Stichprobengrösse in der französisch- und italienischsprachigen Schweiz zu erhöhen. Der Online-Teil wurde als Opt-in-Befragung (Mitmachbefragung) über die Webportale der SRG SSR Medien realisiert.
Um sprachregionale Aussagen machen zu können, haben wir die Sprachminderheiten in der CATI-Befragung überproportional berücksichtigt. Diese wurden, um nationale Aussagen machen zu können, wieder ins richtige Verhältnis gebracht.
Keine Aussagen können wir über das Ständemehr machen, denn die Fallzahl lässt gesicherte Rückschlüsse auf die Kantone nicht zu.
Weiterführende Informationen zur Theorie und der Methode der SRG-Trendumfragen finden sich hier.
Technischer Kurzbericht
Auftraggeber: CR-Konferenz der SRG SSR
Grundgesamtheit: Stimmberechtigte Schweizer:innen
Herkunft der Adressen CATI: Stichprobenplan Gabler/Häder für RDD/Dual-Frame; Verwendung Swiss-Interview-Liste,
Herkunft der Adressen Online: Opt-in-Befragung über die Webportale der SRG SSR
Datenerhebung: telefonisch, computergestützt (CATI) und Online
Art der Stichprobenziehung CATI: at random/Geburtstagsmethode im Haushalt geschichtet nach Sprachregionen
Art der Stichprobenziehung Online: offene Mitmachumfrage
Befragungszeitraum: 13. – 22. Mai 2024
mittlerer Befragungstag: 18. Mai 2024
Stichprobengrösse: minimal 1’200, effektiv 12279 (Cati: 1225, Online: 11054), n DCH: 9782, n FCH: 2114, n ICH: 383
Stichprobenfehler: ± 2.8 Prozentpunkte bei einem Wert von 50% (und 95%iger Wahrscheinlichkeit)
Quotenmerkmale CATI: Geschlecht/Alter interlocked
Quotenmerkmale Online: keine
Gewichtung: Dual-Frame-Gewichtung, Sprache, Siedlungsart, Parteiaffinität, Recall, Teilnahme
mittlere Befragungsdauer CATI: 16.0 Minuten (Standardabweichung: 4.7 Minuten)
Publikation: 29. Mai 2024, 6h00