Studie im Auftrag der SRG SSR
Über folgende Vorlagen entscheidet das Stimmvolk am 22. September 2024:
Politische Grosswetterlage
Die Menschen sehen sich aktuell mit einer Vielzahl von Herausforderungen konfrontiert. Nach einer Phase der geopolitischen Stabilisierung ist die derzeitige Lage verstärkt von Unsicherheiten geprägt. Hinzu kommt, dass die im November stattfindende Präsidentschaftswahl in den Vereinigten Staaten den aktuellen Diskurs beherrscht und mit brisanten Präsidentschaftsdebatten sowie dem Anschlag auf Präsidentschaftskandidat Donald Trump Schlagzeilen macht. Die Wahl des US-Präsidenten wird jeweils in der ganzen Welt mit Spannung verfolgt. Mit Hintergrund der derzeitigen Regierungskämpfe zwischen rechts und links wie beispielsweise in Frankreich und des Gaza-Konfliktes sowie des Ukraine-Kriegs erhält die Besetzung des sogenannt mächtigsten Posten der Welt zusätzliche Brisanz. In Europa fanden die Wahlen bereits statt: Anfangs Juni wählten die EU-Bürger:innen ihr Parlament. Zu den Gewinnenden dürfen sich die europäischen rechten Kräfte zählen.
Die herrschenden Kriege und deren politische und wirtschaftliche Folgen wirken sich auch auf die Schweiz aus. Das hat vor allem eine skeptische Erwartungshaltung bezüglich der Wirtschaftsentwicklung und den Fokus auf die Asylpolitik verstärkt. Gleichzeitig schreitet die Technologieentwicklung weiter voran und wirft Fragen hinsichtlich des Datenschutzes, der künstlichen Intelligenz oder der Cybersecurity auf. Zuletzt häuften sich zudem schwere Unwetter im Wallis, Graubünden und dem Tessin. Die Bevölkerung sieht sich zunehmend mit existenziellen Ängsten konfrontiert und lebt in einer Welt, die fragiler erscheint.
Sorgen der Schweizer Bevölkerung
Diese aktuelle Situation überträgt sich auch auf die Sorgen der Bevölkerung. Im Zentrum finden sich Themen wie die Vorsorge, gestiegene Lebensunterhaltskosten oder auch die Umwelt. Wie das CS-Sorgenbarometer 2023 zeigte, stehen Gesundheitsfragen, die Krankenkasse und die Prämien zuoberst auf der Sorgenliste (40%). Und auch die AHV (32%) bleibt neben dem Umweltschutz resp. Klimawandel (38%) eine grosse Sorge der Bevölkerung.
Politische Landschaft
Die neue Legislaturperiode ist angebrochen und Parlament sowie Regierung haben ihre Arbeit in der neuen Konstellation aufgenommen. Erste Erfahrungen konnten die neuen Politiker und Politikerinnen bereits in der Frühjahrs- und Sondersession sammeln. Nach der Sommerpause, pünktlich zur Abstimmung am 22. September, beginnt die Herbstsession anfangs September. Nach einem anspruchsvollen Einstieg der Bundesrats-Newcomer ist es ein wenig ruhiger geworden. Höhepunkt des bisherigen Politsommers war die Bürgenstock Friedenskonferenz. Nicht nur in der Schweiz richteten sich alle Augen auf Bundesrätin Viola Amherd und Bundesrat Ignazio Cassis sondern auf der ganzen Welt. Mehrheitlich wird die Konferenz schweizweit soweit als Erfolg geachtet, als es im internationalen Kontext möglich erscheint. Kritische Stimmen sind durchaus auch vorhanden wie beispielsweise aus dem Lager der SVP. Insgesamt zeigte sich die Stimmung im Bundesrat weniger angespannt als auch schon. Insbesondere bei dem von Bundespräsidentin Viola Amherd organisierten Bundesratsausflug war die Stimmung gelassen.
Mit den beiden Abstimmungsvorlagen «Biodiversität» und «BVG-Reform» sind erneut Bundesrat Albert Rösti und Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider gefordert. Zuletzt machte insbesondere ersterer mit diversen Themen Schlagzeilen. Er setzte bei der SRG den Sparhammer an und senkt die Gebühren, verfolgt eine umstrittene Wolfspolitik, bringt die Atomkraft – trotz Volksentscheid – wieder auf den Tisch und nimmt die Städte hinsichtlich der Biodiversität in die Pflicht. Im ausführlichen Talk mit der NZZ gab der Bundesrat unter anderem folgendes Statement ab: «Denn der grösste Biodiversitätsverlust entsteht nicht in der Landwirtschaft, sondern durch die Versiegelung der Böden mit Beton. Das ist praktisch unumkehrbar.» Wahlkampf betreibt der Bundesrat Albert Rösti gleich in der Natur selbst, bei der Einweihung einer Wildtierbrücke bei Mühleberg im Kanton Bern. Für ihn ist die Biodiversitätsinitiative zu resolut.
Themen wie Umweltkatastrophen, Asyl- und Migrationspolitik, die Beziehung zur EU und die Kostenentwicklung im Gesundheitswesen bleiben viel diskutiert. Obschon die Prämien-Entlastungs-Initiative und die Kostenbreme-Initiative vom Stimmvolk abgelehnt wurden, sind die Themen nicht vom Tisch und der Problemdruck bleibt hoch. Zusätzlich geben im Zusammenhang mit den sommerlichen Grossanlässen, insbesondere den Olympischen Spielen, mögliche Terroranschläge zu denken. Aufgrund dessen hat der Bundesrat von Juni bis September verstärkte Grenzkontrollen eingeführt.
Zudem wird es aufgrund der Polarisierung zunehmend schwieriger, in Politik und Bevölkerung Kompromisse zu finden und Brücken zu schlagen. Dies äussert sich konkret am Beispiel der Europapolitik, in welcher die trilaterale Konstellation von Staat, Gewerkschaften und Wirtschaft weniger gut zusammenarbeitet als in der Vergangenheit. Dennoch ist es der Schweizer Politik gelungen, die letzte AHV-Reform erfolgreich durchzusetzen.
Anliegen und Vorgeschichte
Die Vielfalt der Lebewesen und Lebensräume, sprich die Biodiversität, in der Schweiz ist gesunken. Landschaften und Ortsbilder sind in Bedrängnis geraten. Deshalb werden Biotope, bedrohte Arten sowie schützenswerte Landschaften und Ortsbilder von Bund und Kantonen behütet. Zudem pflegen sie Schutzgebiete und treiben die Biodiversität voran, auch in der Landwirtschaft. Es werden jährlich Investitionen im Rahmen von rund 600 Millionen Franken getätigt, um die Artenvielfalt zu erhalten. Neben den finanziellen Bestrebungen wird die Biodiversität durch einen Aktionsplan von Seiten Bund und Kantone unterstützt.
Das Komitee der Biodiversitätsinitiative empfindet diese Massnahmen als unzureichend. Es erachtet einen weiterführenden Schutz für die Natur, die Landschaft und das baukulturelle Erbe als notwendig. Die Initianten und Initiantinnen fordern deshalb mehr Geld und Schutzflächen für die Biodiversität und den Erhalt von Biotopen, Landschaften sowie auch Ortsbildern. Sie verlangen zudem, dass die Kantone stärker in die Pflicht genommen werden. Nicht zuletzt möchte die Initiative einen sorgsamen Umgang mit der Natur, Landschaft und dem baukulturellem Erbe auch ausserhalb der Schutzgebiete.
In der näheren Vergangenheit wurde über zwei themenverwandte Initiativen abgestimmt, namentlich sind dies die Trinkwasserinitiative und die Pestizidinitiative im Juni 2021. Beide wurden deutlich abgelehnt. Damalig mobilisierten die beiden Initiativen die Bauernschaft stark.
Lanciert wurde die Volksinitiative «Für die Zukunft unserer Natur und Landschaft (Biodiversitätsinitiative)» von diversen Natur- und Umweltverbänden (Pro Natura, BirdLife, Heimatschutz, Stiftung Landschaftsschutz, Fischerverband, Casafair und Fairfish). Die Bundeskanzlei erklärte sie im März 2020 mit 107’885 gültigen Stimmen als zustande gekommen.
Parlamentarische Beratung und Parolenspiegel
Der Bundesrat und das Parlament empfehlen dem Stimmvolk, die Volksinitiative «Für die Zukunft unserer Natur und Landschaft (Biodiversitätsinitiative)» abzulehnen. Den Räten und der Regierung geht die Vorlage zu weit. Aus ihrer Sicht werden wertvolle Biotope, Landschaften und Ortsbilder genügend gefördert. Sie befürchten, dass bei einer Annahme der Initiative Zielkonflikte mit wichtigen Anliegen wie der Energieversorgung, der Landwirtschaft oder auch der Siedlungsentwicklung auftreten. Bei der parlamentarischen Abstimmung herrschten in beiden Kammern klare Verhältnisse. Parlamentarier und Parlamentarierinnen der Mitte-, SVP-, und FDP-Liberalen-Fraktion stimmten gegen die Initiative und Parlamentarier und Parlamentarierinnen der Grünen- und SP-Fraktion für die Biodiversitätsinitiative. In der GLP-Fraktion stimmten 6 für und 3 gegen das Anliegen. Im Nationalrat stimmten insgesamt 124 gegen und 72 für die Vorlage. Im Ständerat lag das Stimmenverhältnis bei 12 Ja- zu 33 Nein-Stimmen. Der kumulierte Wähleranteil des Ja-Lagers liegt bei 30 Prozent.
Trägerorganisationen der Biodiversitätsinitiative sind Pro Futura, BirdLife, Heimatschutz, Stiftung Landschaftsschutz, Fischereiverband, Casafair und Fairfish. Zu den weiteren unterstützenden Organisationen gehören diverse Umwelt- und Naturschutzverbände wie der WWF, Greenpeace, Fondation Franz Weber, VCS, Kleinbauernvereinigung, Stiftung Landschaftsschutz, Fischereiverband oder etwa der Schweizer Tierschutz (STS). Gegen die Vorlage sprechen sich unter anderem der SBV und der SGV sowie auch Verbände im Energiebereich wie der Verband Schweizer Elektrizitätsunternehmen oder aeesuisse aus.
Bisheriger Abstimmungskampf
Bereits seit geraumer Zeit beobachtet man hie und da an den Hauswänden Plakate des Ja-Komitees- sei es mit Fisch-, Blumen- oder Bienensujets. Der Abstimmungskampf zur Biodiversitätsinitiative ist mittlerweile voll im Gange und die Medienbeiträge häufen sich. Die Kampagne der Initianten bzw. Initiantinnen ist deutlicher sichtbar, nicht zuletzt auch in den sozialen Medien und auch die Gegnerschaft platziert ihre Inhalte an diversen Stellen. Zu Wort meldet sich zudem auch die Wissenschaft. Laut der NZZ steht eine Erklärung mit Unterschriften diverser Wissenschaftler:innen kurz vor der Veröffentlichung. Die Botschaft ist zurückhaltend formuliert und dennoch klar: die Wissenschaftler:innen sind besorgt um die Artenvielfalt in der Schweiz. Insgesamt zeigt die Medienlandschaft eine weitestgehend neutrale Haltung und thematisiert in erster Linie den Inhalt der Vorlage zur Artenvielfalt. Die Mediale Resonanz bleibt jedoch auch weiterhin hinter jeder der BVG-Reform.
Die Initianten bzw. Initiantinnen möchten ganz grundsätzlich mehr Schutzflächen und mehr Geld zugunsten der Biodiversität. Im Zentrum der Kampagne steht der Slogan «Schützen, was wir brauchen». Konkret geht es darum, dass die Biodiversität als Grundlage unserer Existenz sowie auch jener unserer Kinder und Enkelkinder gesehen wird und deshalb erhalten werden muss. Dies inkludiert in den Augen der Initianten bzw. Initiantinnen nicht nur die Nahrungsgrundlagen der Menschen, sondern gleichzeitig auch den Schutz vor Klimawandel und Umweltkatastrophen. Denn eine intakte Natur schafft in verschiedenen Formen Abhilfe – sei es durch Reduktion des CO2 in unserer Atmosphäre oder durch gesunde Wälder zum Schutz vor Lawinen in Berggebieten. Ein weiteres hervorgebrachtes Argument thematisiert die Kosten, die entstehen, wenn nicht jetzt gehandelt wird. Neben finanziellen und überlebenstechnischen Aspekten wird auch die Heimat hoch gewertet. Das abwechslungsreiche Landschaftsbild mitsamt den charakteristischen Dörfern und der vielfältigen Natur, das sie als wichtig für Gesundheit und den Tourismus erachten, sehen sie als bedroht an und fordern daher verstärkten Schutz.
Die Gegnerschaft ist hingegen der Ansicht, dass bereits genügend getan wird und erachtet keine weiteren Massnahmen als notwendig. Sie bezeichnet die Initiative als «extrem und wirkungslos». Befürchtet werden verstärkte Eingriffe und Einschränkungen in den Bereichen der Land- und Forstwirtschaft, der einheimischen, nachhaltigen Energieproduktion, bei der Bautätigkeit und dem Tourismus. Im Detail rechnen die Gegner bzw. Gegnerinnen damit, dass bei einer Annahme etwa 30 Prozent des Schweizer Territoriums unantastbar würden, was zu einer Einschränkung der Nahrungsmittelproduktion und einer Hemmung der erneuerbaren Energieerzeugung führen würde. Diese Folgerungen stehen ihrer Meinung nach im Widerspruch zur Abstimmung des Stromgesetzes vom 9. Juni. Zudem würden die Einschränkungen respektive höheren Anforderungen im Bauwesen dazu führen, dass Baubewilligungsverfahren verlängert und die Preise höher würden.
Typologie der Meinungsbildung
Die Biodiversitätsinitiative ist positiv prädisponiert. Ob sie jedoch letztlich erfolgreich sein wird oder nicht, hängt von der Deutlichkeit dieser positiven Prädisponierung und dem Verlauf des Abstimmungskampfes ab.
Wie unter anderem die Trinkwasser- oder die Pestizidinitiative zeigten, haben Initiativen mit linker Urheberschaft und starkem Alltagsbezug einen schweren Stand in der Schweiz. Als Ausnahmen welche die Regel bestätigen, wären die Konzernverantwortungsinitiative oder die Pflegeinitiative zu nennen. Erhöhte Annahmechancen haben umweltpolitische Initiativen ausserdem, wenn sie neben links-grünen auch umwelt- und schöpfungsbewahrende Werte ansprechen und so auch konservative Kreise überzeugen. Dieser Charakter der agrarpolitischen Anliegen ist eher bei den Argumenten der Gegnerschaft zu erkennen, was schliesslich auch ihnen zu Gute kommen könnte.
Wahrscheinlich ist demnach für die Biodiversitätsinitiative, dass der Normalfall der Meinungsbildung zu einer positiv prädisponierten Initiative eintritt und sich das Nein über den Kampagnenverlauf aufbaut, während der Ja-Anteil sinkt. Das ist dann besonders deutlich zu erwarten, wenn eine oder mehrere konkrete Schwächen diskutiert werden, die für viele Stimmende nachvollziehbar sind.
Im Ausnahmefall steigt der Zustimmungsanteil über den Kampagnenverlauf oder er hält sich. Einen solchen Meinungsverlauf haben wir jüngst bei der Konzernverantwortungsinitiative beobachtet. Das entspricht dem Ausnahmefall der Meinungsbildung zu einer Initiative und ist nach unserer Auffassung dann der Fall, wenn sich mit der Initiativentscheidung eine Proteststimmung aufbaut. So ist es möglich, dass sich die Zusammensetzung der Teilnahmewilligen zugunsten der Initiative ändert oder ein kurzfristiger Meinungswandel im Sinne des Zeichensetzens entsteht. Die konkreten Folgen einer Annahme im Sinne der Schwächen rücken in diesem Ausnahmefall zuletzt in den Hintergrund.
Anliegen und Vorgeschichte
Die berufliche Vorsorge (2. Säule) stellt für viele Menschen, neben der AHV (1. Säule), einen wichtigen Grundpfeiler in der Altersvorsorge dar. Die Pensionskasse wird durch sogenannte Lohnbeiträge von Arbeitgebenden und Arbeitnehmenden finanziert. Daraus werden zu einem späteren Zeitpunkt die Pensionskassenrenten bezogen. Bis zu einem bestimmten Einkommensniveau schreibt das Gesetz vor, wie viel Rente mindestens für jeden gesparten Franken ausgezahlt werden muss. Der obligatorische Teil der beruflichen Vorsorge ist nun jedoch aufgrund tieferer Erträge an den Finanzmärkten sowie der gestiegenen Lebenserwartung unzureichend finanziert. Daraus resultieren zwei Probleme: Erstens sind davon hauptsächlich Pensionskassen tangiert, die lediglich das gesetzliche Minimum oder leicht mehr bereitstellen. Zweitens sind Personen mit geringem Verdienst von dieser Entwicklung besonders betroffen.
Deshalb umfasst die Reform Massnahmen, die eine langfristige Finanzierung zukünftiger Renten trotz steigender Lebenserwartung und sinkenden Renditen gewährleisten. Der Umwandlungssatz in der obligatorischen beruflichen Vorsorge soll von heute 6,8 Prozent auf 6,0 Prozent gesenkt werden. Ausgleichsmassnahmen, wie die Erhöhung des versicherten Lohns oder ein Rentenzuschlag für Übergangsgenerationen sollen für diese Senkung des Umwandlungssatzes kompensieren.
Neben der Sicherstellung der Finanzierung will die Reform die Situation von Geringverdienenden in der beruflichen Vorsorge verbessern und den Zugang zur beruflichen Vorsorge auch Teilzeitarbeitenden mit niedrigen Arbeitspensen ermöglichen. Hierfür ist vorgesehen, dass Arbeitnehmende und Arbeitgebende höhere Beiträge einzahlen. Laut Bund sollen die allermeisten Arbeitnehmenden keine Auswirkungen spüren, da sie deutlich mehr als die gesetzlichen Mindestleistungen erhalten. Zudem habe die Reform keine Konsequenzen für bereits pensionierte Personen.
Gegen das geplante Gesetz wurde vom Komitee «BVG-Referendum» bestehend aus Gewerkschaften, SP, Grüne und dem Konsumenten- bzw. Konsumentinnen-Magazin K-Tipp das Referendum ergriffen. Mit 77’732 gültigen Stimmen erklärte die Bundeskanzlei das Referendum im Juli 2021 als zustande gekommen.
Die letzte Abstimmung zur beruflichen Vorsorge ist nunmehr 14 Jahre her. Damals wurde über die Senkung des Umwandlungssatzes abgestimmt. Die Änderung des BVG’s wurde vom Stimmvolk an der Urne deutlich verworfen.
Parlamentarische Beratung und Parolenspiegel
Der Bundesrat und das Parlament empfehlen dem Stimmvolk, das «Bundesgesetz über die berufliche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge (BVG) (Reform der beruflichen Vorsorge)» anzunehmen. Die Reform wird als nötig empfunden, damit künftige Renten der obligatorischen beruflichen Vorsorge ausreichend und auf lange Sicht finanziert sind. In ihren Augen kommt die Reform im Alter insbesondere Menschen mit tiefem Verdienst zugute. Explizit würden die Frauen von der Reform profitieren. Beide Kammern stimmten der Vorlage mehrheitlich zu. 113 Nationalräte bzw. Nationalrätinnen stimmten für und 69 gegen die Vorlage. Im Ständerat lag das Stimmverhältnis bei 29 Ja- und 8 Nein-Stimmen.
Die Konfliktlinie verläuft entlang der Mitte-Rechtsparteien sowie der GLP und den Linksparteien. Die Mehrheiten der jeweiligen Nationalratsfraktionen sind in sich einig. Nur wenige Parlamentarier und Parlamentarierinnen enthalten sich oder stimmen gegen die eigene Fraktion. Die meisten Enthaltungen und Gegenstimmen verbucht die Mitte-Fraktion.
Die kumulierten Wählendenanteile der Ja-Seite ergeben 65.7 Prozent.
Von den Verbänden erfährt die Vorlage grösstenteils Unterstützung. Unter den Befürwortenden sind zum Beispiel die economiesuisse, der SGV, SAV, der Versicherungsverband (SVV), die Hotellerie Suisse, der Pensionskassenverband (ASIP) wie auch der Swissmem. Gegen das Gesetz stellen sich der SGB, TravailSuisse und der VPOD.
Bisheriger Abstimmungskampf
Die Reform zur beruflichen Vorsorge folgt in der Reihe der bisherigen Abstimmungen zur Altersvorsorge unmittelbar auf die Initiative zur 13. AHV-Rente. Nur ein halbes Jahr nach der letzten Vorlage wird die Stimmbevölkerung somit erneut über ein zentrales Thema der Altersvorsorge entscheiden. Bis dato geniesst die BVG-Reform grössere mediale Aufmerksamkeit als die Biodiversitätsinitiative. Dabei verdeutlicht die Vielzahl an Hintergrundbeiträgen am Anfang des Abstimmungskampfes die Komplexität der BVG-Reform.
Das sehr technische und sachliche Thema wirkt durchaus polarisierend. Je näher der Abstimmungstermin rückt, desto brüchiger wirken jedoch die politischen Lager: Die bürgerlichen Parteien sprechen sich grundsätzlich für die BVG-Reform aus. Unter den Gewerbler, den Bauer und innerhalb der SVP gibt es jedoch viele Skeptiker. So beispielsweise die SVP-Ständerätin Esther Friedli. Die Gastronomin kritisiert unter anderem die höheren Abgaben für Arbeitgebende und – nehmende. Zudem geben, wie schon bei der Initiative zur 13. AHV-Rente, kantonale Sektionen eine entgegengesetzte Parole aus als die Mutterpartei. Die Sektionen Solothurn und Unterwallis empfehlen die BVG-Reform abzulehnen. Ähnlich präsentiert sich das Bild im linken Lager. Prinzipiell lehnt man die Vorlage ab. Ungeachtet dessen befürworten einige Poltiker:innen der Grünen sowie auch Frauenorganisationen die BVG-Reform. Beispielsweise wirbt Maya Graf für die BVG-Reform, obwohl sich ihre eigene Partei dagegen stellt. Sie hält die Reform für Frauen als wegweisend und bedeutend. Aufgrund dessen wird teilweise medial von einer grossen Hürde für die Befürwortenden ausgegangen.
Mit näherkommendem Abstimmungstermin konzentrieren sich die Medien zunehmend mit dem politisierten Inhalten des Abstimmungskampfes. Nicht zu übersehen ist die Kostendiskussion und mit ihr auch die Frage nach den Gewinnenden und Verlierenden. Laut der Studie des VZ Vermögenszentrums führt die BVG-Reform zu deutlichen Rentenkürzungen. Insbesondere seien die jungen Versicherten betroffen. Demnach müssten sie trotz längerer Einzahlungsperiode von niedrigen Renten ausgehen. Zudem sind auch Stimmen zu vernehmen, die die Fairness und die Notwendigkeit der zur Abstimmung stehenden BVG-Reform diskutieren.
Der Akteurspool, der in den Medien vertreten ist, wird dabei immer vielfältiger: Gewerkschaften zweifeln die Zahlen des Bundes an und schätzen die Auswirkungen der BVG-Reform als weitaus gravierender ein, als offiziell kommuniziert. Und selbst die Pensionskassen mischen nun den Abstimmungskampf auf. Sie treten aus ihrer neutralen Rolle hinaus und sprechen sich deutlich gegen die Reform aus.
Seitens Behörden wurde der Abstimmungskampf mit der Medienkonferenz des Bundesrates, vertreten durch die Innenministerin Elisabeth Baume-Schneider, Ende Juni eingeläutet. Der Bundesrat adressiert zwei grundlegende Herausforderungen, welche durch die BVG-Reform angegangen werden sollen: die steigende Lebenserwartung und die schrumpfenden Kapitalrenditen der Vorsorgeeinrichtungen. Argumentiert wird, dass die Versicherten durch die Reform mehr Einkommen in die Pensionskasse einzahlen könnten und somit auch mehr gespart würde. Zudem können laut Angaben des Bundesamtes für Sozialversicherungen (BVS) rund 70’000 Menschen mehr als heute von einem Besitz eines zweite Säulen Konto profitieren, da die Eintrittsschwelle zum Vorteil tieferer Einkommen reduziert wird. Gerade das BVS hat jedoch in den letzten Tagen aufgrund von Fehlberechnungen im Zusammenhang mit der 13. AHV-Renteninitiative Schlagzeilen gemacht. Schliesslich bleibt es abzuwarten, inwiefern die ans Licht gekommene Fehlkalkulation den Abstimmungskampf beeinflusst.
Das Komitee für die BVG-Reform hebt insbesondere die Gerechtigkeit der Gesetzesvorlage hervor. Es ist demnach der Meinung, dass durch die neue Reform die Teilzeitarbeit gestärkt wird, indem sie durch die tiefere Eintrittsschwelle einen gerechten Ausgleich schafft. Zugute kommt dies in den Augen der Komiteemitglieder den Frauen, die überdurchschnittlich oft der Teilzeitarbeit nachgehen, sowie auch Menschen mit tieferen Löhnen. Die Befürwortenden stützen sich diesbezüglich sichtbar auf die Argument des Bundesrates. Zudem thematisieren die Befürwortenden auch die Generationengerechtigkeit. Sie erachten es als unfair, dass aktuell die Erwerbstätigen die Renten querfinanzieren müssen. Deshalb brauche es eine Anpassung der BVG an die sich wandelnde Arbeitswelt und die zunehmende Überalterung der Gesellschaft. Grundsätzlich seien 85 Prozent der Erwerbstätigen nicht von der Senkung des Mindestumwandlungssatzes betroffen. Und dennoch würden alle der sogenannten Übergangsgeneration einen Rentenzustupf erhalten. Weiter sehen sie keine Nachteile für derzeitige Rentner bzw. Rentnerinnen. Im Gegenteil: Die BVG-Reform stärke unser bewährtes 3-Säulen-Prinzip.
Die Gegnerschaft sieht hinter der BVG-Reform einen «Bschiss». Ihre Vertreter bzw. Vertreterinnen rechnen damit, dass mehr Abgaben geleistet werden müssen und weniger Renten ausbezahlt werden, würde die Vorlage angenommen. Besonders betroffene Bevölkerungsgruppen sind ihrer Meinung nach junge Menschen, Arbeitnehmende über 50 Jahre und die Mittelschicht. Deren Renten seien durch die Reform bedroht. Nicht nur erwartet die Gegnerschaft tiefere Renten, sie rechnet auch mit einer finanziellen Mehrbelastung für Geringverdienende aufgrund der höheren obligatorischen Lohnabzügen. Entgegen der Argumentation der unterstützenden Seite sehen sie keine Verbesserung für Frauen, da die Reform keine Lösung für familienbedingte Erwerbsunterbrüche oder Teilzeitarbeit biete. Zudem sehen Sie keine Verbesserung für Personen in Rente, weil der fehlende Teuerungsausgleich in der Reform weiterhin ungelöst bleiben würde. Schliesslich führen die Gegner bzw. Gegnerinnen auch das Argument ins Feld, dass Finanzmärkte, Broker und Versicherungskonzerne durch das höhere Pensionskassenguthaben profitieren würden.
Typologie der Meinungsbildung
Bei der BVG-Reform handelt es sich um eine potenziell mehrheitsfähige Behördenvorlage. Die Prädisponierung dürfte nicht allzu deutlich positiv ausfallen. Die Vorlage ist gerade in den Auswirkungen auf verschiedene Gesellschaftsgruppen komplex, was die Meinungsbildung erschwert. Das wiederum führt in der Ausgangslage wohl zu wenig gefestigten Stimmabsichten. Der Parolenspiegel verweist auf eine Links-Rechts-Spaltung in dieser Frage.
Beide Seiten können auf eine Kernwählerschaft zählen, die in erster Linie weltanschaulich bestimmt ist. Es ist mit einem entscheidenden Anteil an unschlüssigen Menschen zu rechnen, die sich erst im Abstimmungskampf definitiv festlegen werden. Wir gehen von relativ häufiger Unsicherheit bei frühen Stimmansichten aus. Die Entscheidung ist nur labil vorbestimmt. Der Ausgang hängt in hohem Masse vom Verlauf des Abstimmungskampfes ab.
Denkbar sind zwei Szenarien: Ambivalente werden vor allem von der Ja-Seite angesprochen und überzeugt. Die Vorlage kommt durch. Oder aber es kommt zu einer Verunsicherung der an sich positiv eingestellten Teilnahmewilligen, die BVG-Reform wird abgelehnt und das Paket scheitert.