Studie im Auftrag der SRG SSR
Team: Lukas Golder Martina Mousson
Über folgende Vorlagen entscheidet das Stimmvolk am 15. Mai 2022:
Generelle Lage
Die politische Grosswetterlage wird seit Ende Februar 2022 durch den Krieg Russlands in der Ukraine bestimmt. Mit Verweis auf ihre Neutralität zögerte die Schweiz zuerst, Sanktionen gegen Russland zu ergreifen. Sie schloss sich denjenigen der EU und der USA an. Hauptgrund dafür war, dass es sich um einen Angriffskrieg handle, bei dem elementares Kriegsrecht verletzt werde. Schnell angewendet wurde dafür der neue Flüchtlingsstatus „S“, der eine rasche und unbürokratische Aufnahme von Asylsuchenden aus der Ukraine erlaubt.
Eine erste Umfrage zu Bevölkerungsreaktionen zeigte Mehrheiten, die Angst vor einer Eskalation des Krieges haben, die Sanktionen dennoch mittragen und den Schutzsuchenden ein Obdach gewähren wollen (Quelle: SonntagsBlick). Weiter hofft man mehrheitlich, dass die Schweiz im Konflikt vermitteln könne. Das stützt die adaptierte Interpretation der Schweizerischen Neutralitätspolitik.
Trotzdem kam es zu einer innenpolitischen Polarisierung. Die linke Seite mobilisierte mehrfach gut besuchte Demonstrationen, die sich gegen die Militarisierung der Politik wandten. Von rechter Seite wurde eine schnelle Aufstockung des Armeebudgets um 2 Milliarden CHF verlangt. BR Viola Amherd rief die Trägerschaft der Stop-F-35-Initiative erfolglos auf, die Unterschriftensammlung abzubrechen. Eine erste Umfrage dazu zeigt, dass gegenwärtig 60 Prozent die Stop-F-35-Initiative ablehnen. 45 Prozent sind für aufrüsten, 41 Prozent bevorzugen den heutigen Stand (Tamedia/Leewas).
In Bewegung kam auch die Europapolitik. Der Plan B des Bundesrats nach dem Rahmenabkommen fand keinen grossen Widerhall. Dafür unterstützte der Nationalrat einen Vorstoss für ein Europagesetz. Ein Beitritt zum EWR ist wieder auf der Agenda.
Kontrovers beurteilt wurden vor allem Preiserhöhungen auf Benzin und Lebensmittel. Erwogen wird, punktuelle Erlasse von Abgaben zu beschliessen. Von linker Seite wurden Investitionen in erneuerbare Energiequelle als Teil einer vorausschauenden Sicherheitspolitik empfohlen, denn sie könnten die Abhängigkeit von russischem Erdgas und Erdöl minimieren.
Wahlen
Nach der Klimawahl und der Pandemiebekämpfung erlebt die Schweiz damit ein drittes Thema, das die normale Politik der Behörden überragt. Stimmungsmässig setzt sich ein Krisengefühl fest, dass globale Entwicklungen die nationale Politik überlagern.
Einflüsse auf das Wahlverhalten sind bis jetzt nicht festzustellen. Seit 2020 haben GLP und Grüne bei kantonalen Wahlen zulegen können; es verlieren die Bundesratsparteien. In der Regel fallen die Veränderungen in den Parteistärken aber geringer aus.
Das bestätigten die ersten grossen Wahlen während des Krieges, die in den Kantonen Waadt und Bern stattfanden. Die grossen Parteien FDP, SP, SVP und Die Mitte verloren Anteile an Wählenden, während Grünliberale und Grüne zulegen konnten. Insgesamt blieb die bürgerliche Vorherrschaft bestehen, auch wenn sich mit den Grünliberalen ein neues Zentrum etabliert. Zur Verliererpartei avanciert ist namentlich die SP.
Laufender Abstimmungskampf:
Die fokussierte Aufmerksamkeit auf den russisch-ukrainischen Krieg hat jedoch Einfluss auf den Abstimmungskampf. Zuerst hat sie den gestarteten Abstimmungskampf weitgehend verdrängt. Durchgeführt werden konnten letztlich nur die Medienkonferenzen des Bundesrats, mit denen er die Abstimmungsthemen und seine Sichtweise auf die drei Vorlagen begründete. Alles andere ging aber vorerst weitgehend unter.
Direkte Auswirkungen ergeben sich auf die Vorlage zum Ausbau der EU-Frontex Behörde. Sie steht im Dauereinsatz an der Grenze zur Ukraine und demonstriert damit, warum es sie braucht. Ihre Abschaffung ist in weite Ferne gerückt. Aufgekommen ist aber die Kritik, dass sie selektiv vorgehe und Ukrainer:innen gegenüber Menschen anderer Nationen bevorzugt behandle.
Trotz den Restriktionen aus dem Krieg in der Ukraine wird bereits jetzt eine Hierarchisierung der Themen sichtbar. Noch am meisten interessiert sich die Öffentlichkeit für das Filmgesetz, gefolgt von der Frontex-Entscheidung, während das Transplantationsgesetz kaum behandelt wird.
Ganz kurz
Zusammengefasst stehen sich die folgenden Standpunkte gegenüber:
Ja (Mehrheit Parlament): Für Bundesrat und Parlament schliesst die Änderung des Gesetzes eine Lücke, die mit dem digitalen Wandel entstanden ist. Sie beseitigt die Ungleichbehandlung von Fernsehsendern und Streamingdiensten, stärkt das Schweizer Filmschaffen und trägt zur kulturellen Vielfalt des immer wichtigeren digitalen Angebots bei.
Nein (Minderheit Parlament): Für das Referendumskomitee ist es unfair, dass die Gesetzesänderung Streamingdienste zwingt, zu 30 Prozent europäische Filme zu zeigen. Beliebte Filme aus aller Welt hätten damit das Nachsehen. Zudem ist das Komitee überzeugt, dass die Abonnemente für Streamingdienste wegen der Investitionspflicht teurer würden.
Anliegen und Vorgeschichte
Die Änderung des Filmgesetzes will eine Lücke schliessen, die durch den digitalen Wandel entstanden ist, und beseitigt die Ungleichbehandlung von Fernsehsendern und Streamingdiensten. Durch die Ausweitung der Investitionspflicht auf inländische und ausländische Streamingdienste entsteht für – oft global tätige Unternehmen – ein zusätzlicher Anreiz, Schweizer Filme und Serien zu produzieren. Zudem soll die Konkurrenzfähigkeit der Schweizer Filmproduktion gestärkt werden, insbesondere gegenüber den europäischen Ländern, die eine Investitionspflicht kennen.
Inländische Fernsehsender sind bereits heute verpflichtet, 4 Prozent ihres Umsatzes in das Schweizer Filmschaffen zu investieren. Damit leisten sie einen wichtigen Beitrag zur einheimischen Filmproduktion. Filme und Serien werden jedoch zunehmend auch im Internet zum Abruf angeboten (Streaming). Für die oft global tätigen Streamingdienste gibt es bis jetzt in der Schweiz keine Investitionspflicht. Die Änderung des Filmgesetzes sieht vor, dass Streamingdienste künftig ebenfalls 4 Prozent des in der Schweiz erzielten Umsatzes in das hiesige Filmschaffen investieren müssen. Sie können sich entweder direkt an Schweizer Film- und Serienproduktionen beteiligen oder eine Ersatzabgabe entrichten, die der Schweizer Filmförderung zugutekommt. Zudem muss das Angebot der Streamingdienste zu 30 Prozent aus Filmen oder Serien bestehen, die in Europa produziert wurden. Gegen die Gesetzesänderung wurde das Referendum ergriffen.
Ein Grossteil der umliegenden Länder kennt eine Investitions- oder eine Abgabepflicht für Streamingdienste. So verpflichten Frankreich und Italien die Streamingdienste, bis zu 26 Prozent beziehungsweise 20 Prozent des Umsatzes ins europäische Filmschaffen zu investieren. Deutschland kennt keine Investitionspflicht, sondern ausschliesslich eine Abgabe von 2,5 Prozent des Umsatzes. In Österreich gibt es weder eine Investitions- noch eine Abgabepflicht.
Parlamentarische Debatte
Bei der Filmförderung waren sich die Räte einig, dass es strengere Auflagen für die Streaming-Dienste geben solle. Der Nationalrat wollte, dass nur 1 Prozent der Einnahmen in das Schweiz Filmschaffen investiert werden müsse. Der Ständerat verlangte 4 Prozent. Damit setzte er sich schliesslich mit den Stimmen von Mitte/Links durch, sah sich aber von rechts Vorwürfen des Protektionismus ausgesetzt. Festgelegt wurde, dass die Massnahme nach vier Jahren evaluiert werden müsse.
Beide Kammern nahmen die finale Vorlage an. Im Nationalrat waren die Befürworter:innen mit 124 zu 67 in der Überzahl, im Ständerat war das Ergebnis 32 zu 8.
Das Referendum dagegen wurde von verschiedenen Jungparteien Mitte/Rechts ergriffen. Es ist mit 51’972 gültigen Unterschriften zustande gekommen. Deshalb kommt es zur Volksabstimmung.
Die Kontrolle der gültigen Unterschriften nimmt seit der Pandemie die Bundeskanzlei vor. Sie macht dies nur solange, bis klar ist, dass die nötige Unterschriftenzahl erreicht wurde. Gemäss Angaben des Komitees wurden 70’000 Unterschriften gesammelt.
Bisheriger Abstimmungskampf
Im Abstimmungskampf wird die Vorlage behördenseitig durch Bundesrat Alain Berset, Vorsteher des EDI, vertreten.
Nach Ansicht des Bundesrats und des Parlaments wird das Gesetz dafür sorgen, dass in- und ausländische Fernsehsender und Streamingdienste gleichgestellt werden. Ausländische Fernsehsender mit Schweizer Werbefenstern werden ebenfalls einen Beitrag an die Vielfalt des Filmangebots leisten müssen. Das Gesetz stellt zudem sicher, dass ein kleiner Teil des in der Schweiz erzielten Umsatzes in der Schweiz bleibt. Dadurch können Arbeitsplätze geschaffen und Aufträge an die lokale Wirtschaft generiert werden.
Eine Auswirkung der Investitionspflicht auf die Preise der Streaming-Anbieter ist unwahrscheinlich. Auch in Ländern mit sehr hohen Ansätzen ist kein Zusammenhang zwischen Regulierung und Preisen erkennbar. Die Verpflichtung für Streamingdienste, mindestens 30 Prozent europäische Filme und Serien zu zeigen, kommt in der Europäischen Union bereits zur Anwendung und liegt unter den Vorgaben für Fernsehsender. Die Streamingdienste halten sich bereits daran, womit sich für die Konsumentinnen und Konsumenten in der Schweiz nichts ändern wird.
Das Referendumskomitee bestehend aus Jungparteien von rechts bis ins Zentrum ist der Auffassung, dass die Pflicht zur Investition in das Schweizer Filmschaffen einer Sonderabgabe für Streaming-Plattformen gleichkommt, die sich auf die Preise der Abonnemente auswirken wird. Es erachtet es ausserdem als ungerecht, dass Streamingdienste 30 Prozent ihres Programms für europäische Filme zur Verfügung stellen müssten. Diese Vorgabe würde gemäss dem Komitee die Freiheit der Konsumentinnen und Konsumenten einschränken und Produktionen aus anderen Teilen der Welt benachteiligen.
Bisher haben vier nationale Parteien ihre Parolen zum Filmgesetz gefasst. SP, Die Mitte, GPS und GLP sind dafür, während die FDP gekippt ist. Im Parlament votierte sie mehrheitlich zugunsten der Vorlage, an der Delegiertenversammlung deutlich dagegen. Erwartet wird, dass sich die GLP ins Ja-Lager gesellt, die SVP auf die Nein-Seite geht.
Ohne SVP und FDP kommt das Ja-Lager auf 54 Prozent. Das ist für eine sichere Zustimmung am Abstimmungstag wenig. Allerdings kommt es sehr auf die innere Geschlossenheit der Parteien an, die nicht zwingend ist.
Der bisherige Konflikt spricht für eine Polarisierung auf der ökonomischen Achse des politischen Spektrums, bei der es zentral um das Verhältnis von Markt und Staat geht. Staatliche Hilfen an bestimmte Branchen sind dabei der Hauptangelpunkt.
Analysen zu dieser Konfliktart zeigen, dass mit räumlichen Unterschieden im Abstimmungsergebnis zu rechnen ist. Namentlich zwischen den Sprachregionen, aber auch im Stadt/Land-Kontext sind solche zu erwarten.
Im aktiven Abstimmungskampf mobilisieren vor allem die Jungparteien JSVP, JF und JGLP via Social Media. In der deutschsprachigen Schweiz haben sie damit den Lead einnehmen können. Entsprechend könnte sich auch ein Generationengraben manifestieren. In der französischsprachigen Schweiz sind aber die befürwortenden Stimmen in der Überzahl. Da haben sich auch die Jungparteien der Linken geschlossen zusammengefunden. Geteilt erscheint Die Junge Mitte.
Typologie der Meinungsbildung
In unserer Typologie handelt es sich um eine positiv prädisponierte Vorlage. Dafür spricht das Endergebnis in beiden Räten. Etwas offen ist aber, wie sich die Meinungsbildung entwickeln wird:
Im Normalfall verteilen sich Unentschiedene auf beide Seite, was für eine finale Zustimmungsmehrheit spricht.
In jüngster Zeit kam jedoch auch mehrfach der Ausnahmefall vor, bei dem sich die Zustimmungsbereitschaft im Abstimmungskampf abbaute. Grund dafür war ein offener Konflikt unter den beteiligten Akteuren, der bei den Stimmberechtigten Anklang fand.
Als erstes Anzeichen für ein solches Szenario kann der Positionswechsel der FDP an der Delegiertenversammlung gewertet werden.
Noch liegen keine Umfragen vor, die eine gesicherte Aussage zur Ausgangslage, Trends in der Meinungsbildung und erwartbaren Mehrheiten erlauben würden. Dennoch gibt es bereits drei Mittelfristprognosen, die eine vorläufige Einschätzung erlauben. Es handelt sich um eine Extrapolation aus der Schlussabstimmung im Nationalrat, um eine Hochrechnung aus der Inhaltsanalyse des Bundesbüchleins und um eine Wettbörse, bei der mit symbolischem Geld der vermutliche Ausgang gehandelt wird. Alle drei Tools sehen eine Annahme der Vorlage im Bereich von 50-60 Prozent Zustimmung. Allerdings unterstellen die beiden Hochrechnungen einen „normalen“ Abstimmungskampf. Die Wettbörse verfolgt die Meinungsbildung dynamisch. Bis jetzt konnte sie kein Wendeereignis in der Erwartungshaltung identifizieren.
Vergleichsabstimmungen
Der bisherige Verlauf der Meinungsbildung zum Filmgesetz erinnert in starkem Masse an die Volksabstimmung über das Medienpaket vom 13. Februar 2022. Auch damals kam die zentrale Opposition gegen die Behördenvorlage von rechts. Sie fiel in der deutschsprachigen Schweiz und auf dem Land verstärkt aus.
Die Nein-Kampagne mobilisierte Mehrheiten der SVP und FDP-Wählerschaften, unterstützt von einer beachtlichen Minderheit namentlich der Mitte-Partei. Stark verworfen wurde die Vorlage von Männern und Absolvent:innen einer Berufsschule. Misstrauische Personen gegenüber von SRG, lokalen Medien und Journalist:innen waren zudem klar dagegen.
Viele Motive der Stimmenden blieben diffus, spezifische betrafen die vorgesehene Mittelverteilung, die Gefahr von staatsabhängigen Medien und resp. der Wunsch nach weniger Staat und mehr Markt. Resonanzstärkstes Argument war, dass es nicht Aufgabe des Staates sei, einzelne Wirtschaftsbranchen vor Marktveränderungen zu schützen.
Medienwissenschafter Roger Blum spricht von einer generellen Abkehr vom Service public System. Namentlich in der deutschsprachigen Schweiz tendiere das Mediensystem hin zu einem liberalen Muster, bei dem namentlich die Anbieter und die Finanzierung zu Privaten gehe. Das finde sich in der französisch- und italienischsprachigen Schweiz allerdings kaum.
Ganz kurz
Zusammengefasst stehen sich folgende Standpunkte gegenüber:
Ja (Mehrheit): Eine Organspende kann Leben retten. Für Bundesrat und Parlament ist es darum wichtig, dass die Organe all jener, die sie nach dem Tod spenden können und möchten, auch wirklich transplantiert werden. Das neue Vorgehen sichert den Einbezug der Angehörigen und entlastet sie in einer schwierigen Situation.
Nein (Minderheit): Laut dem Komitee gibt es mit dem neuen Gesetz immer Personen, die nicht wissen, dass sie sich gegen eine Organspende aussprechen müssten. So würde hingenommen, dass Menschen gegen ihren Willen Organe entnommen würden. Das verletze das Recht auf Selbstbestimmung und körperliche Unversehrtheit.
Anliegen und Vorgeschichte
In den vergangenen fünf Jahren haben in der Schweiz im Schnitt jährlich rund 450 Menschen eines oder mehrere Organe einer verstorbenen Person erhalten. Der Bedarf an Organen ist allerdings deutlich grösser. Eine Transplantation ist heute nur möglich, wenn die verstorbene Person der Spende zu Lebzeiten zugestimmt hat (Zustimmungslösung). Der Wille der betroffenen Person ist aber häufig nicht bekannt. Dann müssen die Angehörigen entscheiden. In der Mehrheit der Fälle sprechen sie sich gegen eine Organspende aus.
Bundesrat und Parlament möchten die Chance von Patientinnen und Patienten erhöhen, ein Organ zu erhalten. Sie wollen darum die Organspende neu regeln: Wer seine Organe nicht spenden möchte, muss dies zu Lebzeiten festhalten (Widerspruchslösung). Hat eine Person nicht widersprochen, wird davon ausgegangen, dass sie ihre Organe spenden möchte.
Das entspricht einem Strategiewechsel, denn bisher gilt die Zustimmungsregel. Sie besagt, dass für eine Organentnahme eine aktive Zustimmung der betroffenen Person vorliegen muss.
Das geänderte Transplantationsgesetz ist ein Gegenvorschlag zur Volksinitiative „Organspende fördern – Leben retten“. Lanciert wurde sie von Junior Chamber International, die sich für mehr Selbstbestimmung, Sicherheit und Solidarität bei der Organspende einsetzt. Im Patronatskomitee sind vor allem Ärzt:innen, aber auch nationale und kantonale (Gesundheits-)Politiker:innen. Ihr Vorschlag basierte auf dem Wechsel zur Widerspruchslösung, jedoch ohne Mitsprache der Angehörigen. Die Volksinitiative wurde unter der Bedingung zurückgezogen, dass das geänderte Transplantationsgesetz in Kraft tritt.
Parlamentarische Beratung
Das Parlament war sich einig, dass die Volksinitiative „Organspende fördern – Leben retten“ in der vorgelegten Fassung nicht angenommen werden könne. Sie stimmten auch darin überein, dass es einen Gegenvorschlag auf Gesetzesebene brauche.
Dieser baut, wie die Initiative, auf einer Widerspruchslösung auf, gibt aber den Angehörigen ein Mitspracherecht. Die getroffene Lösung sieht vor, dass diese eine Organspende ablehnen können, wenn sie wissen oder vermuten, dass die betroffene Person sich dagegen entschieden hätte. Sind keine Angehörigen erreichbar, dürfen keine Organe entnommen werden.
Beide Kammern nahmen die finale Vorlage an. Im Nationalrat waren die Befürworter:innen mit 141 zu 44 in der Überzahl, im Ständerat lautete das Endergebnis 31 zu 12.
Gegen das Gesetz hat ein Komitee aus Fachleuten und Mitgliedern rechtsbürgerlicher Parteien das Referendum ergriffen. Es ist mit 55’357 gültigen Unterschriften zustande gekommen, weshalb es zu Volksabstimmung kommt.
Bisher haben fünf Parteien ihre Parolen gefasst. Sie unterstützen alle die Vorlage. Erwartet wird, dass sich die SVP auf die Nein-Seite stellen wird.
Auch ohne die SVP umfasst das Ja-Lager 67 Prozent der Wählenden bei den Nationalratswahlen 2019. Ohne massive Elite/Basis-Konflikte sollte das für die Annahme reichen.
Man kann festhalten, dass es sich um einen politischen Konflikt handelt, der in erster Linie ethische Fragen aufwirft. Er polarisiert zwischen traditionellen und modernen Verständnissen der Lebensweisen. Zu einem traditionellen Verständnis tendieren Menschen mit autoritären und nationalistischen Einstellungen.
Bisheriger Abstimmungskampf
Im Abstimmungskampf wird die Vorlage durch Bundesrat Alain Berset, Vorsteher des EDI, vertreten.
Die wichtigsten Argumente von Bundesrat und Parlament lauten:
Das Referendumskomitee argumentiert wie folgt:
Der eigentliche Abstimmungskampf verläuft ausgesprochen flau. Die Ja-Seite wird durch eine PR-Kampagne der Agentur furrerhugi unterstützt. Die Nein-Seite blieb bisher weitgehend passiv.
Der K-Tipp hat eine Kontroverse zur Frage lanciert, wann ein Mensch definitiv tot sei resp. ob der Hirntod als Kriterium für die Organentnahme ausreiche. Eine weiterführende Debatte entstand daraus allerdings nicht.
Typologie der Meinungsbildung
In unserer Typologie der Entscheidung handelt es sich um eine positiv prädisponierte Vorlage. Dafür spricht neben einer allgemeine Umfrage von gfs.bern zum Spendenregister, wonach 80 Prozent bereit sind, ein Organ zu spenden, auch die klare Entscheidung in den beiden Räten.
Bei einem grossen Vorsprung der Ja-Seite in frühen Umfragen ist davon auszugehen, dass das Transplantationsgesetz angenommen wird, egal wie sich die Meinungsbildung noch entwickeln wird. Für eine eigentliche Wende in der Meinungsbildung spricht kaum etwas.
Noch liegen keine spezifischen Umfragen vor, die eine gesicherte Aussage zur Ausgangslage, zu Trends in der Meinungsbildung und erwartbaren Mehrheiten erlauben würden.
Es gibt jedoch bereits drei Mittelfristprognosen, die eine vorläufige Einschätzung erlauben. Es handelt sich um eine Extrapolation aus der Schlussabstimmung im Nationalrat, um eine Hochrechnung aus der Inhaltsanalyse des Bundesbüchleins und um eine Wettbörse, bei der mit symbolischem Geld der vermutliche Ausgang gehandelt wird.
Alle drei Tools sehen eine Annahme der Vorlage im Bereich von mindestens 60 Prozent vor. Allerdings unterstellen die beiden Hochrechnungen einen normalen Abstimmungskampf.
In der Wettbörse 50plus1 rechnen 94 Prozent der Börsianer:innen mit einer Annahme.
Vergleichsabstimmungen
Es gab in jüngerer Zeit verschiedene denkbare Vergleichsabstimmungen. Das begann mit dem Verfassungsartikel zur Transplantationsmedizin, der 1999 in die Verfassung aufgenommen worden ist. 2010 kam ein Verfassungsartikel zur Forschung am Menschen hinzu, 2015 einer zur Fortpflanzungsmedizin und Gentechnologie im Humanbereich. Ferner kann man das Stammzellenforschungsgesetz (2004) und die Fortpflanzungsmedizin (2016) miteinbeziehen.
Alle Abstimmungen haben eine Gemeinsamkeit. Sie wurden mit klaren Mehrheiten von 62 bis 88 Prozent angenommen. Stets hatte die Opposition aus dem traditionalistischen oder grün-alternativen Lager keine Chance, den medizinischen Fortschritts in Frage zu stellen.
Der voraussichtlich aktuellen Konstellation kommt jene beim Verfassungsartikel zur Fortpflanzungsmedizin und Gentechnologie nahe. Damals stimmten 62 Prozent für die Vorlage.
Ganz kurz
Zusammengefasst stehen sich die folgenden Standpunkte gegenüber:
Ja (Mehrheit Parlament): Für Bundesrat und Parlament steht fest: Frontex ist wichtig für die Kontrolle der Schengen-Aussengrenzen und die Sicherheit im Schengen-Raum. Das liegt auch im Interesse der Schweiz. Mit ihrer Teilnahme an Frontex übernimmt sie Verantwortung und gestaltet mit. Bei einem Nein riskiert die Schweiz ihren Ausschluss aus Schengen/Dublin.
Nein (Minderheit Parlament): Für das Komitee ist Frontex mitverantwortlich für Menschenrechtsverletzungen, Gewalt, Elend und Tod an den Aussengrenzen Europas. Trotzdem sei geplant, Frontex massiv auszubauen – auch mit Geld aus der Schweiz. Wer es ernst meine mit dem Schutz für Flüchtende, müsse den Frontex-Ausbau stoppen.
Anliegen und Vorgeschichte
Die Schweiz gehört zum Schengen-Sicherheitsverbund. Die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache (Frontex) unterstützt die Schengen-Staaten operativ bei der Kontrolle der Schengen-Aussengrenzen. Die Schweiz arbeitet seit über zehn Jahren mit Frontex zusammen. Seit Ende 2019 wird Frontex in der EU ausgebaut. Bundesrat und Parlament haben entschieden, dass die Schweiz sich am Ausbau von Frontex beteiligt. Dagegen wurde das Referendum ergriffen.
Die Gegner:innen argumentieren, dass die Schweiz angebliche Menschenrechtsverletzungen durch Frontex mitverantwortet, indem sie die Agentur finanziell unterstützt. Mit dem Ausbau erhält Frontex mehr Geld und mehr Personal. Dazu kommen neue Aufgaben im Bereich der Rückkehr ausreisepflichtiger Personen. Zudem wird die unabhängige Stelle für Grundrechte aufgestockt. Sie trägt dazu bei, dass bei Einsätzen an den Schengen-Aussengrenzen die Rechte aller gewahrt werden.
Mit der Vorlage von Bundesrat und Parlament übernimmt die Schweiz ihren Anteil an dieser Reform. Ihr finanzieller Beitrag an Frontex steigt schrittweise an. Auch wird sie mehr Personal und Material zur Verfügung stellen. Falls die Schweiz diese Schengen-Weiterentwicklung ablehnt, endet ihre Zusammenarbeit mit den Schengen- und Dublin-Staaten automatisch – es sei denn, die EU-Staaten und die EU-Kommission kommen der Schweiz entgegen.
Parlamentarische Beratung
Die befürwortende Mehrheit sieht im Ausbau der Frontex-Organisation Vorteile auch für die Schweiz. Sie bezeichnete die Erweiterung als wichtigen Beitrag zur Sicherheit in der Schweiz und als Einsatz für den Schutz von Grundrechten. Zudem würde sich der personelle Einsatz aus der Schweiz von sechs auf 40 Stellen erhöhen. Das würde mehr direkte Einflussnahme garantieren.
Genau da argumentiert die Gegnerschaft dagegen. Sie forderte, dass die Schweiz sich für mehr Schutz aller Flüchtenden einsetze. Frontex missachte Grundsätze gegen die Rassendiskriminierung. Zudem müsste die Schweiz die Zahl der Neuansiedelung von Flüchtenden im eigenen Land erhöhen.
Die Entscheidung in der grossen Kammer fiel knapp aus. Hauptgrund dafür war, dass die SVP Mühe hatte, sich zu positionieren. Schliesslich sagten 14 Nationalrät:innen der Partei Ja, zwölf Nein, und es enthielten sich 28. Klar dafür votierten die Mitglieder von FDP, Die Mitte, und GLP. Dagegen stellten sich die SP und die Grünen.
Ausserparlamentarische Bewegungen aus dem Bereich der Flüchtlingshilfe ergriffen das Referendum.
Unterstützt wurden sie von den Grünen und der SP. Es ist mit 54’337 gültigen Unterschriften zustande gekommen. Deshalb kommt es zur Volksabstimmung.
Die Kontrolle der gültigen Unterschriften nimmt seit Corona die Bundeskanzlei vor. Sie macht dies nur solange, bis klar ist, dass die nötige Unterschriftenzahl erreicht wurde. Gemäss Angaben des Komitees hat es über 62’000 gesammelt.
Die Opposition ist primär zivilgesellschaftlich und rekrutiert sich namentlich aus Bewegungen und Organisationen der Flüchtlingshilfe. Ihre Argumentation ist radikaler als die der Parteien, denn sie wollen teilweise Frontex ganz abschaffen. Sie werfen der EU Behörde vor, für die rassistische Festung Europa verantwortlich zu sein.
Bisher Stellung bezogen haben fünf Parteien. Dafür sind FDP, Die Mitte und GLP, dagegen SP und Grüne.
Etwas unsicher ist die Position der SVP, da es in der Fraktion viele Enthaltungen gab. Immerhin hat sich Bundesrat Maurer klar für die Vorlage ausgesprochen, da sie der Schweiz Sicherheit biete.
Bisheriger Abstimmungskampf
Im Abstimmungskampf wird die Vorlage durch Bundesrat Ueli Maurer, Vorsteher EFD, und Bundesrätin Karin Keller-Sutter, Vorsteherin EJPD, vertreten.
Der Start des eigentlichen Abstimmungskampfes ging von den Opponenten aus; die Behörden reagierten erst danach. Allerdings blieb die erhöhte Wirkung weitgehend aus, wohl weil beides mit dem Beginn des Krieges in der Ukraine zusammenfiel. Mit diesem stellte sich sofort auch die Flüchtlingsfrage, erwartet man doch bis 7 Millionen Flüchtende aus dem Kriegsgebiet.
Der bisherige Abstimmungskampf war sehr polarisiert. Auf der befürwortenden Seite wird betont, wie wichtig es sei, dass man eine leistungsfähige Agentur für Asylsuchende an der EU-Aussengrenze habe. Auf der anderen Seite kam umgehend die Kritik, dass nicht alle Flüchtenden gleichbehandelt würden und es zu rassistischen Diskriminierungen komme.
Zwischenpositionen, wie sie die SP schon während der Beratung im Parlament eingenommen hatte, haben einen schwierigen Stand. Ihr Nein zur Vorlage trug ihr den Vorwurf ein, die Europa-Position der Schweiz zu schwächen. Prominente Regierungsräte und Ex-Mitglieder der SP-Fraktion kritisierten den auch die Positionierung der Partei öffentlich.
Typologie der Meinungsbildung
In unserer Typologie handelt es sich prinzipiell um eine nicht prädisponierte Vorlage. Dafür spricht das Ergebnis in beiden Räten. Namentlich im Nationalrat blieb die Ambivalenz gross. Das dürfte in der stimmberechtigten Bevölkerung nicht anders sein. Hauptgrund ist, dass die Thematik öffentlich nicht breit bekannt ist und die Konfliktlinien nicht zwingend gängigen Gegensätzen entsprechen.
Allerdings überlagert die gegenwärtige Kriegsproblematik das Thema offensichtlich. In der Wettbörse „50plus1“ rechnen 84 Prozent der Börsianer:innen jetzt mit einer Annahme. Klar ersichtlich wird, dass es hier mit dem Kriegsbeginn zu einem Wendemoment kam. Die Erwartung einer Ablehnung, die davor mehrheitlich war, kippte ins Gegenteil.
Bei einer nicht vorbestimmten Vorlage würde man von einem Meinungsaufbau im Abstimmungskampf ausgehen, bei dem beide Seite zulegen können.
Die Überlagerung der anfänglichen Offenheit durch den Krieg stellt das in Frage. Denkbar ist hier, dass es zu einer verstärkten Anpassung Richtung erwarteter Mehrheit kommt.
Wenig wahrscheinlich ist, dass das Gegenteil eintrifft, das heisst, der Abstimmungskampf eine positive Prädisposition in eine finale Ablehnung umkehrt.
Noch liegen keine Umfragen vor, die eine gesicherte Aussage zu Ausgangslage, Trends in der Meinungsbildung und erwartbaren Mehrheiten erlauben würden.
Allerdings gibt es bereits drei Mittelfristprognosen, die eine vorläufige Einschätzung erlauben. Es handelt sich um eine Extrapolation aus der Schlussabstimmung im Nationalrat, um eine Hochrechnung aus der Inhaltsanalyse des Bundesbüchleins und um eine Wettbörse, bei der mit symbolischem Geld der vermutliche Ausgang gehandelt wird.
Alle drei Tools sehen eine Annahme der Vorlage im Bereich von 50-60 Prozent Zustimmung. Allerdings unterstellen die Hochrechnungen einen normalen Abstimmungskampf. Das muss angesichts der Grosswetterlage nicht zwingend der Fall sein.
Vergleichsabstimmungen
Über Gesetze mit Bezug zur Asylpolitik hat die Schweiz in jüngster Zeit mehrfach abgestimmt. 2016 war das im Zuge der Revision des Asylgesetzes letztmals der Fall; allerdings kam die Opposition damals von rechts.
2013 wurde aufgrund eines linken Referendums, bestehend aus SP, GPS, PdA und CSP in einer Volksabstimmung über das Asylgesetz entschieden. 78 Prozent der Stimmenden votierten damals für die Behördenvorlage. Das Ja-Lager umfasste 69 Prozent der Wählenden von 2011. Der Ja-Anteil war damit höher, was dafürspricht, dass die Wählenden der opponierenden Parteien nicht geschlossen dagegen stimmten.