Klimajugend vs. Sofajugend

Jugendliche finden Relevanz und Identifikationsanker in Klimafrage – Auswirkung auf politisches Engagement teilweise sichtbar

im Auftrag des Dachverbands Schweizer Jugendparlamente

Der easyvote-Politikmonitor ist eine jährlich angelegte Befragung bei Schüler*innen der Sekundarstufe II. Im Auftrag des Dachverbands Schweizer Jugendparlamente (DSJ) wurden so 2019 zum fünften Mal über 1000 15- bis 25-Jährige zu ihren Präferenzen, Partizipationsformen und Haltungen im Zusammenhang mit Politik befragt

Nebst Informationen über die Einschätzungen Jugendlicher zur Politik werden so auch wichtige Hinweise über die Arbeit von easyvote erhoben. Ziel ist es, sowohl die Produkte und Tätigkeiten von easyvote als auch die Wirkung der konkreten Kampagnen zu evaluieren. Der Dachverband Schweizer Jugendparlamente (DSJ) verfolgt das Ziel, die Beteiligung junger Bürgerinnen und Bürger am politischen Prozess der Schweiz zu erhöhen.

Informationen zur Stichprobe und Befragungsmethode finden sich in der Infobox am Ende des Cockpits.

Während Individualismus und Selbstverwirklichung lange Zeit die primären Leitmotive der Jugend dargestellt haben, orientiert sich die heutige Generation eher am Mainstream, an einem Wunsch nach Sicherheit und an einer gewissen Nähe zum Konventionellen. Der Umstand, in einer Zeit sozialisiert geworden zu sein, in der die Welt scheinbar unübersichtlicher und unsicherer wird, hinterlässt bei den Bedürfnissen von Jungen Spuren. Bereits seit längerem war von der „apolitischen“ Jugend die Rede und davon, dass „Schein“ im Zeitalter von Social Media wichtiger ist als „Sein“. Seit die Klimastreiks vor etwas mehr als einem Jahr begonnen haben, hat sich diese Diskussion fundamental verändert. Stattdessen wird darüber gestaunt, wie die Jugend die mediale und politische Agenda prägt und es geschafft hat, mit dem Klimawandel ein Thema zur ersten Priorität zu machen, das über Jahrzehnte als unvermittelbar galt.

Der easyvote-Politikmonitor bezieht auch diese Entwicklungen mit in die Analyse und Diskussion mit ein.

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Politisches Interesse und Relevanz der Politik

Eine Mehrheit von 54 Prozent aller befragten Schüler*innen gibt an, dass der Klimawandel ein politisches Themengebiet ist, das sie persönlich interessiert. Damit steht die Umweltfrage eindeutig an erster Stelle. Im Vergleich zum letzten Befragungsjahr hat dieses Interesse der Jungen innerhalb des letzten Jahres weiter stark zugenommen.

An zweiter Stelle steht das Interesse an der Gleichberechtigung von Mann und Frau,  dem zweiten Thema, das im letzten Jahr die Massen auf der Strasse bewegt hat. Im Vergleich zur Klimafrage ist in diesem Themenbereich jedoch trotz Frauenstreik kein relevanter Anstieg im Interesse der jungen Schweizer*innen zu verzeichnen.

Dasselbe gilt für Migrations- und Asylfragen. Deutlich eingebrochen ist das Interesse an Politik im Ausland, das 2018 noch an erster Stelle stand.

Trotz dem Umstand, dass die Klimafrage das Verhältnis der Jugend zur Politik im letzten Jahr aufgemischt hat, wird ersichtlich, dass das Interesse an allen anderen Themen stagniert oder aber eher abnimmt.

Das sinkende Interesse von jungen Schweizer*innen an politischen Fragen ist somit ebenfalls Teil der aktuellen Realität.

Informationsverhalten

Der sich langsam vollziehende Medienwandel weg von klassischen Medien hin zu „on-demand“-Medien, die ständig abrufbar News liefern und gezielten individuellen Präferenzen entsprechen, verändert auch das Informationsverhalten der Gesellschaft. Insgesamt ist von zunehmender „News-Deprivation“ die Rede, die besonders bei Jungen ausgeprägt ist.

Die Ergebnisse des diesjährigen easyvote-Politikmonitors bestätigen diesen Trend weitgehend. Sogar in der relativ kurzen Zeitspanne seit 2014 macht sich eine Entwicklung hin zu einer geringeren Informationshäufigkeit bemerkbar. Gaben 2014 noch 22 Prozent der Befragten an, sich täglich oder sogar mehrmals täglich über das politische Geschehen zu informieren, ist das heute nur noch bei 10 Prozent der Fall.

Wahlen

Es gibt zahlreiche Argumente, die in den Augen der Schüler*innen für die Teilnahme an Wahlen sprechen. Zum ersten Mal wurden diese Argumente beim ersten easyvote-Politikmonitor 2014 (mit Bezug auf die Wahlen 2015) abgefragt und dann 2018 und 2019 (mit Bezug auf die Wahlen 2019) wiederholt.

In allen drei Befragungen stand das Argument der Interessensvertretung Junger im Parlament an erster Stelle. Auch das Argument, dass Wählen ein wichtiges Bürgerrecht sei und eine einfache Form sich politisch zu beteiligen darstellt, stösst über alle drei Befragungspunkte bei einer klaren Mehrheit auf Zustimmung.

Im Vergleich zum letzten Jahr stieg die Unterstützung für einige positive Aussagen, die 2018 an Zustimmung verloren, wieder an – insbesondere dafür, dass das Parlament wichtige Entscheidungen treffen und Wählen eine Neuausrichtung der Politik erlauben würde. Es bleibt jedoch dabei, dass nur eine Minderheit der Meinung ist, dass das Parlament wichtige Entscheidungen für ihren persönlichen Alltag treffen würde.

Dieser Befund ist deshalb besonders wichtig, weil es ein Schlaglicht auf die empfundene (fehlende) Relevanz der parlamentarischen Politik auf das Leben von jungen Schweizer*innen wirft. Es ist aber genau diese Relevanz, die eine entscheidende Zutat für die Beteiligung Junger an der Politik darstellt. Wer sich nicht betroffen fühlt, macht nicht mit. Hier bleibt also weiterhin viel Informations- und Aufklärungsarbeit zu leisten.

Im Gegensatz zu den Argumenten für das Wählen, ist keines der Argumente gegen das Wählen mehrheitsfähig. Am meisten Zustimmung erhält die Aussage, keine Partei würde den eigenen Interessen entsprechen.

Verglichen mit 2018 gewinnt vor allem die Aussage, Politik und Politiker*innen würden versagen und den Volkswillen nicht umsetzen, deutlich an Zustimmung. Alle anderen Argumente bleiben mehr oder weniger konstant und bei unter 30 Prozent Zustimmung.

Vor dem Hintergrund der verhältnismässig tiefen Teilnahme von Jungen an der Politik stellt sich die Frage, inwiefern Schüler*innen den Prozess des Wählens als Herausforderung empfinden. Tatsächlich gibt mehr als die Hälfte der Befragten (63%) an, nicht einfach gewusst zu haben, wie Wählen geht. Je ein Drittel mussten sich über den Wahlprozess informieren (30%) oder Hilfe besorgen (31%).

Ganz wenige gaben auch an, einfach etwas ausprobiert zu haben (2%). Für 36 Prozent der Schüler*innen, die bereits an den Wahlen 2019 teilnehmen konnten, war Wählen an sich jedoch kein Problem.

Politische Bildung

Obwohl – oder vielleicht genau weil – das Interesse an politischen Fragen und die Informationshäufigkeit über die letzten Jahre abgenommen hat, nimmt die wahrgenommene Wichtigkeit der politischen Bildung für die Schüler*innen über die Zeit zu. Heute finden 71 Prozent, der politischen Bildung sollte eine eher oder sehr grosse Wichtigkeit im Unterricht zugeschrieben werden. Im Jahr 2014 lag dieser Wert noch bei 66 Prozent.

Im Gegensatz zur empfundenen Wichtigkeit nimmt der wahrgenommene Ertrag der politischen Bildung im gleichen Zeitraum ab. Tatsächlich ist 2019 das erste Jahr, in dem lediglich eine (knappe) Minderheit der Meinung ist, sie hätten im Rahmen ihrer politischen Bildung sehr oder eher viel gelernt.

Beteiligung und politisches Engagement

Obwohl der Klimastreik als Jugendbewegung das Land im letzten Jahr geprägt hat, ist in der subjektiven Wahrnehmung des eigenen politischen Engagements 2019 kein grosser Unterschied zum letzten Befragungszeitpunkt zu erkennen. 2019 bezeichnen sich – wie 2018 auch – 20 Prozent der Befragten als sehr oder eher politisch engagiert.

Gestiegenes politisches Interesse an einzelnen Themen, wie dem Klimastreik, geht somit nicht automatisch mit einem erhöhten (wahrgenommenen) politischen Engagement einher.

Synthese

Klimawandel politisiert - teilweise

Der Klimawandel schafft, was lange nur schwer vorstellbar war: Das Thema setzt einen Bezugsanker zur Politik und wirkt identitätsstiftend für eine ganze Generation. Andere Fragen beschäftigen auch, aber in deutlich weniger grossem Ausmasse. Trotz des grossen Impacts der Klimabewegung und des Wahljahres ist kein klarer Anstieg des selbstzugeschriebenen politischen Engagements sichtbar. Dennoch bestehen klare Hinweise auf eine erhöhte Motivation durch konkrete Ereignisse, die über Klimafragen hinausgehen – der Frauenstreik, die Präsidentschaft von Trump oder EU-Fragen.

selektive Informiertheit

Die Informiertheit der Schüler*innen zu politischen Themen nimmt weiter ab. Die Wichtigkeit der Informationen im eigenen, direkten Umfeld (Stichwort Echokammer) nimmt dagegen zu. Es werden immer mehr „on demand“ Medien konsumiert oder Zeit auf Plattformen wie Instagram verbracht, die direkt auf die Präferenzen von Individuen abzielen. Hinzu kommt ein relativ grosses Misstrauen gegenüber Medien und sinkende Informationshäufigkeit, was die Abkehr von linearen Medien unterstützt.

Wahlen 2019

Wahlen werden als gestaltendes Element wahrgenommen und geschätzt. In den Augen der befragten Schüler*innen ist das Wählen aber auch mit gewissen Schwierigkeiten verbunden. Dabei geht es weniger um den Ablauf und den Vorgang des Wählens, sondern um die Entscheidung für eine Partei oder Person. Gerade wenn es um den Umgang mit den Herausforderungen des Wählens geht, bestehen zwischen den Geschlechtern durchaus Unterschiede.

Politik aktiv erleben

Über die Zeit ist ein leichter Trend hin zu einer grösseren wahrgenommenen Wichtigkeit der politischen Bildung zu erkennen. Gleichzeitig nimmt der wahrgenommene Nutzen des politischen Unterrichts in der Schule ab. Die politische Bildung sollte in Zukunft vermehrt im Sinne eines aktiven Erlebens und Übens von Politik und politischer Auseinandersetzung gestaltet werden, weniger in Form von passivem Besprechen der Politik.

Stichprobe und Methode

Die Basis für die Ziehung der 25 zur Befragung eingeladenen, Schulen bildet die offizielle Adressliste der Bildungsinstitutionen (Sekundarstufe II) des Bundesamtes für Statistik aus dem Bildungsjahr 2018/2019. Um möglichst aussagekräftige Resultate zu erhalten, wurden gewisse regionale Schwerpunkte festgelegt, in denen eine minimale Anzahl Schulen befragt werden mussten. Alle Schulen wurden zufällig pro Kanton gezogen, wobei 11 Schulen (zufällig) aus der Liste der teilnehmenden Schulen von 2018 gezogen wurden. Die Resultate der insgesamt 1470 Befragten wurden in einem fünfstufigen Verfahren nach Sprachregion, Schultyp und Geschlecht gewichtet.

Auftraggeber: Projekt easyvote, Dachverband Schweizer Jugendparlamente
Grundgesamtheit: 15- bis 25-Jährige mit Wohnsitz in der Schweiz
Datenerhebung: online
Art der Stichprobenziehung: Klumpenauswahl (Zufallsauswahl der Schulen, Auswahl der Klassen, Befragung aller SchülerInnen der betreffenden Klassen)
Schichtung: Nach ausgewählten Kantonen
Befragungszeitraum: 24.10.–22.11.2019
Befragungsdauer: Mittelwert 17 Minuten 49 Sekunden
Stichprobengrösse: Total Befragte CH N = 1470, n DCH 990, n FCH 404, n ICH 76
Stichprobenfehler: ±2.4 Prozentpunkte bei 50/50 und 95-prozentiger Wahrscheinlichkeit
Quotenmerkmale: Kanton und Schultyp

Gewichtungsverfahren:

Ständige Wohnbevölkerung (15 bis 25 Jahre) als Basis für eine Gewichtung nach Alter/Geschlecht interlocked nach Sprachregion
Schultyp nach Kanton interlocked (Schritt 1 und 2 durch Randgewichtung in vierfachem Loop)
Detaillierter Schultyp nach Kanton (BE, ZH, VD) interlocked
Schultyp nach Sprachregion interlocked
Anzahl Schüler nach Kanton
Ständige Wohnbevölkerung (15 bis 25 Jahre) als Basis für eine Gewichtung nach Alter/Geschlecht nur DCH
Schultyp nach Sprachregion interlocked