Der Dispositionsansatz

Forschungskonzept zur Meinungsbildung bei Abstimmungen

gfs.bern

Der Dispositionsansatz von gfs.bern bietet einen systematischen Rahmen, um Umfragedaten im Entscheidungsprozess zu analysieren, einzubetten und zu interpretieren. Der Fokus liegt nicht auf punktgenauen Prognosen, sondern auf der Dynamik der Meinungsverläufe unter dem Einfluss von Abstimmungskämpfen.

Bei Wahlen bildet die Parteibindung die relevante Grundhaltung dafür, wie man sich entscheidet. Sie bestimmt in einem hohen Masse, wie man Parteien, Kandidierende, Wahlkampfthemen und Stimmungslagen wahrnimmt. Eine solche Vereinfachung ist bei Volksabstimmungen nicht möglich. Dafür variiert die Themenbreite der Vorlagen zu stark.

Die Allianzen der Parteien wechseln und Abstimmungskämpfe sind weniger standardisiert als Wahlkämpfe. Statt auf einer einfachen Parteibindung aufzubauen, stützt sich die Abstimmungsforschung daher vorzugsweise auf Prädispositionen. Konkret handelt es sich dabei um Elemente der individuellen Meinungsbildung, die gegeben sind, bevor ein konkreter Prozess der Entscheidungsfindung einsetzt. Die Meinungsbildung steht nämlich weder ein für alle Mal fest, noch beginnt sie jedes Mal bei null.

Management Summary

Effizientes Werkzeug zur Analyse der Meinungsbildung bei Abstimmungen

Der Dispositionsansatz von gfs.bern bietet ein präzises Modell zur Analyse und Interpretation von Meinungsbildungsprozessen bei Abstimmungen. Dabei liegt der Fokus nicht auf punktgenauen Prognosen, sondern auf der Dynamik der Meinungsverläufe unter dem Einfluss von Prädispositionen und Abstimmungskämpfen. Prädispositionen bestimmen die Meinungsbildung vor Kampagnenbeginn. Diese können gerichtet (klar), labil (uneindeutig) oder nicht existent sein.

Wichtig ist, zwischen Initiativen und zu Behördenvorlagen zu unterscheiden, weil sie unterschiedlichen Entstehungslogiken folgen.

Grundsätzliche These des Dispositionsansatzes:

Abstimmungsergebnisse sind nicht statisch, sondern werden durch Prädispositionen und Abstimmungskämpfe geprägt. Diese folgen der Meinungsbildung der politischen und medialen Eliten und dem allgemeinen politischen Klima. Zuerst entstehen Stimmabsichten und Konfliktmuster, dann fällt die Entscheidung.

Dynamik der Meinungsbildung: Meinungsaufbau, Meinungsverstärkung oder Meinungswandel prägen die Entscheidungsfindung und hängen stark von Kampagnenwirkungen ab. Im Regelfall gleicht sich die Meinungsbildung zu Behördenvorlagen und Initiativen im Kampagnenverlauf an die Behördenposition an.

Kernthesen Dispositionsansatz:

  1. Je stärker eindeutige Prädispositionen für frühe Stimmabsichten relevant sind, desto eher gehen wir von einer vorbestimmten Entscheidung aus.
  2. Je eindeutiger Botschaften der Kampagnen Stimmabsichten bestimmen, die sich im Abstimmungskampf verfestigen, desto eher liegt eine eindeutig bestimmbare Entscheidung vor.

Sind beide Bedingungen erfüllt, ist das Veränderungspotenzial gering, und punktgenaue Prognosen durch Vorumfragen sind denkbar. Fehlt eine der beiden Bedingungen, sind präzise quantitative Prognosen nicht möglich, qualitative Aussagen jedoch schon.

Einsatzgebiete:

  • Behördenvorlagen: Die Zustimmung hängt massgeblich von parlamentarischer Unterstützung ab. Klar positiv prädisponierte Vorlagen werden meist angenommen, während bei unklaren Fällen Meinungsaufbau und Polarisierung entscheidend sind.
  • Volksinitiativen: Diese starten häufig mit hohem Problembewusstsein, wobei die Lösungspräferenz oft durch Kampagnen geprägt wird. Generell nimmt der Nein-Anteil mit der Kampagnendauer zu, was eine Annahme erschwert.
  • Stimmbeteiligung: Mobilisierungsmaßnahmen, Themenbreite und die Art der Vorlagen beeinflussen die Beteiligung und Zusammensetzung des Elektorats signifikant.

Forschungskonzept

Die Kombination von Prädisposition und Dynamik erlaubt eine Typologie der Meinungsbildung bei Abstimmungen.

gfs.bern hat das Forschungskonzept zur Meinungsbildung bei Abstimmungen im Dispositionsansatz zusammengefasst. In der ursprünglichen Form wurde der Dispositionsansatz 1998 entwickelt und seither laufend an neuste wissenschaftliche Erkenntnisse und Standards angepasst

Grundsätzliche These des Dispositionsansatzes:
Abstimmungsergebnisse sind nicht statisch, sondern werden durch Prädispositionen und Abstimmungskämpfe geprägt. Diese folgen der Meinungsbildung der politischen und medialen Eliten und dem allgemeinen politischen Klima. Die Entscheidung hängt von der Vorlage und ihrem Typ ab: Zuerst entstehen Stimmabsichten und Konfliktmuster, dann fällt die Entscheidung.

Hypothese 1: Je stärker eindeutige Prädispositionen für frühe Stimmabsichten relevant sind, desto eher gehen wir von einer vorbestimmten Entscheidung aus.

Hypothese 2: Je eindeutiger Botschaften der Kampagnen Stimmabsichten bestimmen, die sich im Abstimmungskampf verfestigen, desto eher liegt eine eindeutig bestimmbare Entscheidung vor.

Sind beide Bedingungen erfüllt, ist das Veränderungspotenzial gering, und punktgenaue Prognosen durch Vorumfragen sind denkbar. Fehlt eine der beiden Bedingungen, sind präzise quantitative Prognosen nicht möglich, qualitative Aussagen jedoch schon.

Prädispositionen werden wie folgt unterschieden:

  • Gerichtete Prädisposition: Mehrheitlich eindeutig.
  • Labile Prädisposition: Mehrheitlich, aber nicht eindeutig.
  • Nicht prädisponierte Entscheidung: Keine klare Richtung.

Die Kombination aus Prädisposition und Dynamik bildet die Typologie der Meinungsbildung:

  • Vorbestimmte Entscheidungen: Ergebnis entspricht der Prädisposition – mit oder ohne Meinungswandel.
  • Nicht vorbestimmte Entscheidungen: Meinungsaufbau oder Meinungswandel bestimmt den Ausgang.

Prädispositionen, Dynamik der Meinungsbildung und Prädisponiertheit

Allgemeine und themenspezifische Prädispositionen

Thematische Prädispositionen

  • Betroffenheit/Interessenlagen
  • gut erinnerte, prinzipielle Sachentscheidungen bei vergleichbaren Themen
  • Alltagserfahrungen mit dem Abstimmungsthema

Allgemeine Prädispositionen

  • weltanschauliche Beurteilung eines Themas
  • Parteiidentifikation/Parteiparolen
  • Regierungsvertrauen beziehungsweise -misstrauen
  • (Un-)Zufriedenheit mit dem Status Quo

In der Abstimmungsforschung werden Prädispositionen auch Heuristiken genannt. Die klassische Dreiteilung – Status-quo-, Vertrauens-/Misstrauens- und Parteiheuristik – ergänzen wir durch die Weltanschauungsheuristik. Diese ermöglicht die Einordnung eines Themas, selbst ohne sachliche Auseinandersetzung, und kann quer zu Parteibindungen stehen.

Thematische Prädispositionen setzen hingegen eine direkte Beschäftigung mit der Vorlage voraus. Am konkretesten sind Entscheidungen aus Betroffenheit und Interessenlage, die einer Kosten-Nutzen-Analyse (rational choice) entsprechen.

Dynamik der Meinungsbildung und Prädisponiertheit

Was die Dynamik angeht, unterscheiden wir generell:

  • Meinungsaufbau (Unentschiedenheit weicht der Entschiedenheit)
  • Meinungswandel (Vorentschiedenheit wird umgekehrt)
  • Meinungsverstärkung (Vorentschiedenheit wird verstärkt)

Diese Prozesse können auf kollektiver oder individueller Basis analysiert werden. Unsere Betrachtung fokussiert auf die kollektive Meinungsbildung. Individuelle Analysen erfordern Panel-Daten, da Rückerinnerungsfragen problematisch bleiben, weil sie eine ungefilterte Erinnerung voraussetzen.

Das kollektive Mass der Vorbestimmtheit von Abstimmungen nennen wir Prädisponiertheit. Sie hängt von relevanten Prädispositionen und der Mobilisierung, Verstärkung oder Veränderung durch Abstimmungskampagnen ab. Insgesamt ist die Prädisponiertheit bei Volksabstimmungen geringer als bei Wahlen, insbesondere bei Parteiwahlen. Daher erfordert die Abstimmungsforschung komplexere Ansätze als die Wahlforschung.

Instrumentarium des Dispositionsansatzes

Der Dispositionsansatz stützt sich nicht nur auf die Sonntagsfrage zu Stimm- und Teilnahmeabsichten, sondern berücksichtigt auch weitere Einstellungsfragen. Bei Trendumfragen vor Abstimmungen sind dies meist der Argumentetest und das Konfliktmuster. Sie werden verwendet, um die Ausgangslage und Möglichkeiten von Kampagnen im Abstimmungskampf zu bestimmen und damit das Potenzial von Veränderungen auszuloten.

These Meinungsbildung zu Referenden

Bei Referenden sucht der behördliche Willensbildungsprozess nach Konsens oder Mehrheit, wodurch eine prädisponierte Entscheidung entsteht, oft im Sinne aller politischen Parteien.

Im Normalfall erwarten wir, dass sich die Meinungsbildung unter den Stimmwilligen der Mehrheitsposition aus dem Parlament angleicht. Im abweichenden Fall kommt es zu einer Protestentscheidung, wenn die behördliche Willensbildung im Abstimmungskampf nicht hält oder zerfällt. In diesem Fall wird ein abweichender Volksentscheid gefällt.

Letztlich erwarten wir das Gleiche bei Volksinitiativen, wenn auch mit umgekehrten Vorzeichen. Relevant ist hier, dass Volksinitiativen in aller Regel Vorschläge unterbreiten, die parlamentarisch nicht mehrheitsfähig sind, das heisst aus einer klar linken oder rechten Position starten, respektive von einer unpolitischen Mitte aus lanciert sind.

These Meinungsbildung Initiativen

Wir erwarten auch hier, dass sich im Abstimmungskampf die Meinungsbildung der behördlichen Position angleicht. Wenn es sich von Beginn an um Minderheitsanliegen handelt, scheitern sie im Normalfall zwangsläufig in der Volksabstimmung.

Wenn sie anfänglich mehrheitlich sind, sprechen wir von einer potenziellen Mehrheitsinitiative, bei welcher der Abstimmungskampf entscheidet, in aller Regel zuungunsten der Vorlage.

Die abweichenden Fälle treten auch hier auf, wenn sich die Meinungsbildung im Abstimmungskampf weg von der Behördenposition entwickelt, sei es, dass eine anfängliche Mehrheit bestehen bleibt, oder noch seltener, dass sie erst mit dem Abstimmungskampf entsteht.

Anwendung Dispositionsansatz auf Behördenvorlagen

Zu Behördenvorlagen zählen obligatorische sowie fakultative Referenden und Gegenvorschläge zu Volksinitiativen. Ihnen ist eigen, dass sie vom Parlament mehrheitlich abgesegnet worden sind.

Sämtliche Verfassungsänderungen gelangen als obligatorische Referenden automatisch vor das Stimmvolk. Gesetzesvorlagen hingegen kommen nur dann zur Abstimmung, wenn 50’000 Bürger*innen dies verlangen. In solchen Fällen (fakultatives Referendum) ist mit einer organisierten Opposition zu rechnen, während dies bei obligatorischen Referenden nicht zwingend der Fall sein muss (Ausnahme: gleichzeitige Abstimmung zu Volksinitiative und Gegenvorschlag).

Die Ausgangslagen sind vielfältig:

  • wenn sich eine Behördenvorlage auf einen eigentlichen Präkonsens stützen kann, ist die Zustimmung zu Beginn der Meinungsbildung ausgeprägt positiv.
  • wenn eine Behördenvorlage im Parlament mehrheitlich zustande gekommen ist, handelt es sich in aller Regel um eine positive oder nur nicht vorbestimmte Vorlage. Im ersten Fall führt das Ja vor dem Nein und hat eine Mehrheit, was bei nicht vorbestimmten Vorlagen nicht gegeben ist.
  • negativ prädisponierten Fällen ist eigen, dass die Meinungsbildung mit einer ablehnenden Mehrheit beginnt.

Bei Trends unterscheiden wir zwei Entwicklungen: den Meinungsaufbau, wobei sich Ja und Nein gleich gerichtet bewegen, während sich die Unschlüssigen bei einer Polarisierung auf beide Seiten verteilen. Stark positiv vorbestimmte Vorlagen werden in aller Regel angenommen. Das gilt ebenso für ausgesprochen negativ vorbestimmte Entscheidungen, wenn auch im umgekehrten Sinn.

Wir behandeln solche eindeutigen Fälle hier nicht weiter. Von Belang sind aber alle übrigen Fälle, die wir unter zwei verschiedenen Szenarien betrachten:

Szenario 1: Normalfall

Von einem Normalszenario sprechen wir dann, wenn die Zustimmung während des Abstimmungskampfes zunimmt.

Dieser Fall kann bei einem Meinungsaufbau oder bei einer Polarisierung eintreten, und zwar unabhängig davon, ob es sich bei der Ausgangslage um einen positiv-prädisponierten oder nicht prädisponierten Fall gehandelt hat, denn die Meinungsbildung entwickelt sich in allen Kombinationen in Richtung Behördenstandpunkt.

Es folgen diese drei wichtigsten Dynamiken schematisch dargestellt.

Szenario 2: Ausnahmefall

Von einem abweichenden Szenario reden wir dann, wenn die Zustimmungsbereitschaft mit dem Abstimmungskampf abnimmt.

In solchen Fällen handelt es sich entweder um eine Polarisierung zum Nein oder um einen Meinungsaufbau zum Nein.

Die Ausgangslage kann auch hier unbestimmt oder schwach positiv sein.

Zur Veranschaulichung finden sich hier sämtliche Behördenvorlagen seit 2008 nach dieser Typologie eingeteilt.

Anwendung Dispositionsansatz auf Volksinitiativen

Volksinitiativen werden meist von Regierung und Parlament abgelehnt oder zu Gegenvorschlägen umformuliert. Dies beeinflusst die meinungsbildenden Eliten und unterscheidet sie grundlegend von Behördenvorlagen.

Initiativen beziehen sich oft auf bereits bekannte Probleme, da ohne substanzielles Problembewusstsein die nötigen Unterschriften schwer erreicht werden. Allerdings ist die vorgeschlagene Lösung meist weniger bekannt und entwickelt sich erst im Meinungsbildungsprozess. Entsprechend muss bei der Meinungsbildung zwischen dem Problem und seiner spezifischen Behebung durch die Initiative unterschieden werden. Wir postulieren hier generell, dass das Problembewusstsein erfolgreicher Initiativen prädisponiert ist, nicht aber die Lösungspräferenz, da sich diese erst im Verlaufe eines Meinungsbildungsprozesses auf die Entscheidungsabsichten auswirkt.

Ausgangslage:

Sie wird für eine Volksinitiative durch das Mass des Problembewusstseins in der Öffentlichkeit bestimmt. Je problematischer eine Situation eingeschätzt wird, desto eher findet sich vor einer Kampagne eine Zustimmungsbereitschaft zur entsprechenden Initiative. Je weniger dringlich ein Problem beurteilt wird, desto eher liegt eine offene, allenfalls sogar negativ vorbestimmte Ausgangslage vor.

Generelle Hypothesen

  • Der Nein-Anteil nimmt mit der Dauer des Abstimmungskampfes zu.
  • Der Ja-Anteil nimmt mit der Dauer des Abstimmungskampfes ab.

Damit ist nur etwas über die Richtung ausgesagt, nicht aber über das Ausmass der Veränderung. Dieses hängt davon ab, wie stark die Prädisponierung ist, (vor allem der Ja-Seite) respektive wie viele Teilnahmewillige unentschieden sind und wie wirksam die Kampagnen auf solche Unsicherheiten eingehen. Dabei ist bekannt, dass die Schwachstellenkommunikation zum Lösungsvorschlag die effektivste ist, sprich am ehesten Unschlüssige und latent Befürwortende zu Gegnerschaft werden lässt.

Das Ausmass des Meinungswandels in ein Nein ist schwer vorhersehbar: Je ausgeprägter das Problembewusstsein generell ist, desto schwächer fällt der Meinungswandel aus. Eine rein mechanische Betrachtung führt indessen nicht zum Ziel; eine dynamische Analyse ist nötig, die beispielsweise konkrete Kampagnenaktivitäten einbezieht.

In der Realität ist ein Rückgang des Ja-Anteils (fast) immer zu beobachten. Das Ausmass dieses Rückgangs variiert allerdings zwischen 1 und 43 Prozent. Das Mittel seit 2008 beträgt rund 13 Prozent. Grösser ist der Umschwung auf der Nein-Seite: Im Schnitt beträgt er rund 23 Prozent.

Eine eindeutige Regel dazu, wie gross der zu erwartende Anteil der Veränderung in den Stimmabsichten ist, gibt es nicht. Am ehesten kann geltend gemacht werden, dass der Prozentsatz „eher befürwortender“ Bürger:innen ein brauchbarer Prädiktor ist. Allerdings kennen wir zwei Typen von Veränderungen: Beim einen schmilzt der ganze Anteil der Befürwortenden weg, beim anderen Typus hingegen nur weniger als die Hälfte. Zum ersten Typus kommt es, wenn das Anliegen selbst sehr ansprechend wirkt und so vorerst viel Zustimmung generiert, während die darauffolgende Kritik am Inhalt der Vorlage dann zur Erosion der Unterstützung führt. Der zweite Typus hingegen hat verschiedene Ursachen, unter anderem diejenige, dass die Zustimmung von Beginn an gering ist und sich während der Kampagnen auch nicht viel daran ändert.

Der Meinungsbildungsprozess zu Initiativen kann in vier idealtypischen Szenarien festgehalten werden:

Szenario 1:

Bei mehrheitlich positiv prädisponierter Mehrheit in der Ausgangslage, geringer Opposition zum Lösungsvorschlag oder sehr hohem Problemdruck nimmt Nein zu, bleibt Ja (fast) stabil, sodass die Vorlage (in der Regel) angenommen wird.

Ein typisches Beispiel hierfür ist die Abzocker-Initiative.

Szenario 2:

Bei mehrheitlich positiv prädisponierter Mehrheit in der Ausgangslage, beschränkt hohem Problemdruck und Opposition zum Lösungsvorschlag nimmt der Nein-Anteil zu, während der Ja-Anteil abnimmt. Die Vorlage wird abgelehnt, ausser wenn der prädisponierte Ja-Anteil über 50 Prozent liegt

Ein typisches Beispiel für eine so angenommene Volksinitiative ist das Verbot des Zweitwohnungsbaus, während die Familieninitiativen von SVP und CVP Exempel für abgelehnte Volksbegehren sind.

Szenario 3:

Bei minderheitlich positiv prädisponierter Mehrheit in der Ausgangslage nimmt der Nein-Anteil zu, während der Ja-Anteil abnimmt. Die Vorlage wird abgelehnt.

Typisches Beispiel hierfür ist die Energie- statt Mehrwertsteuer-Initiative.

Szenario 4:

In Ausnahmefällen kann das dritte Szenario ausbleiben. Das ist nach unserer Auffassung dann der Fall, wenn es mit der Initiativentscheidung zu einem Tabubruch kommt, mit dem sich eine Proteststimmung aufbaut. So ist es möglich, dass sich die Zusammensetzung der Teilnahmewilligen zugunsten der Initiative ändert oder ein kurzfristiger Meinungswandel im Sinne des Zeichensetzens entsteht. Nach unserer Erfahrung ist dieses Szenario sehr selten; es muss sich aufgrund der Beteiligungsabsichten, die im Abstimmungskampf stark steigen müssen, andeuten und im Argumentetest sichtbar werden, indem Gegnerschaft und Unschlüssige vermehrt Ja-Botschaften zustimmen. In der Regel wird dafür eine doppelte Öffentlichkeit benötigt. Das bedeutet, dass Mainstream-Medien gegen die Initiative sind, Zielgruppenmedien aber eine verbreitete Zustimmung erahnen lassen. Unter diesen Bedingungen tritt der vierte und unten postulierte Verlauf ein: Hier hinkt die Darstellung allerdings etwas, da die Beteiligungsabsichten asymmetrisch zunehmen.

Der typische Fall eines solchen Szenarios ist die Masseneinwanderungsinitiative.

Zur Veranschaulichung finden sich hier sämtliche Initiativen seit 2008 nach dieser Typologie eingeteilt.

Anwendung auf Stimmbeteiligung

Die Auswirkungen der Abstimmungskämpfe auf die Mobilisierung respektive auf die Verteilung der Stimmabsichten wurden bisher nur wenig beachtet. Das ist dem Umstand geschuldet, dass die Identifizierung von Zusammenhängen angesichts einer rasch wechselnden Zahl an Vorlagen und Themen nicht ganz einfach ist.

Die Auffassung, dass die Beteiligungshöhe nur vom Abstimmungskampf abhänge ist widerlegt. Vielmehr existiert ein Sockel routinemässig teilnehmender Bürger:innen und ein Anteil der Bevölkerung, der sich in Abhängigkeit vom Klima, von der Konfliktsituation und der eigenen Meinungsbildung beteiligt.

Zudem halten wir fest, dass die mittlere Beteiligung an Volksabstimmungen zwischen 2011 und 2023 bei 47 Prozent lag (BFS). Stimmbeteiligungen zwischen 40 und 50 Prozent zeigen meist keine relevanten Veränderungen in der Zusammensetzung des Elektorates. Fällt die Beteiligung jedoch höher aus, nimmt vor allem der Anteil der wenig politischen Bürger:innen zu und die Chancen populistisch geprägter Entscheidungen steigen.

Bei geringeren Teilnahmewerten beteiligen sich vorwiegend Bürger:innen mit starkem Interesse an der Politik, sodass die Chancen auf kurzfristige Veränderungen sinken.

Die Beteiligungszunahme hängt davon ab, ob eine Vorlage klar mobilisiert. Mehrere Abstimmungsvorlagen an einem Abstimmungstermin erhöhen die Beteiligung stärker als Einzelvorlagen, da die Mobilisierung vorlagenspezifischer ausfällt.

Wichtig: Die Beteiligungswerte für einzelne Vorlagen müssen nicht identisch sein, da es eine zunehmende Differenzierung zwischen genereller Teilnahme und der Stimmabgabe zu einzelnen Vorlagen gibt.

Regelbeispiel: Im Mobilisierungsfall steigt die Stimmbeteiligung während des Abstimmungskampfs im Durchschnitt um 5 Prozentpunkte. Alle anderen Fälle sind Ausnahmen.

Zitierweise

Dispositionsansatz vom Forschungsinstitut gfs.bern.