Sexuelle Belästigung und sexuelle Gewalt an Frauen sind in der Schweiz verbreitet

Hohe Dunkelziffer im Vergleich zu strafrechtlich verfolgten Vergewaltigungen

Amnesty International Schweiz

Die Studie "sexuelle Gewalt" erhebt die Verbreitung sexueller Gewalt an Frauen in der Schweiz auf Umfrage-Basis. Studien in Europa deuten auf eine grosse Dunkelziffer im Vergleich zu den angezeigten oder verfolgten sexuellen Straftaten hin.

Zur Durchführung der Befragung bei diesem sensitiven Thema wurden drei verschiedene Erhebungsmethoden kombiniert, um die Aussagekraft in allen Altersgruppen zu erhöhen. Der Fragebogen startete mit indirekten Fragen. Bevor Details zu persönlichen Gewalterfahrungen erfragt wurden, erfolgte ein Hinweis auf kantonale Beratungsstellen. Nur 45 Prozent der Befragten kennen in ihrer Region eine Beratungseinrichtung für Frauen, die Opfer von Gewalt geworden sind.

Die Ergebnisse der Studie „sexuelle Gewalt“ basieren auf einer repräsentativen Befragung von 4’495 Frauen ab einem Alter von 16 Jahren in der Schweiz. Die Befragung wurde zwischen dem 26. März und dem 15. April 2019 durch das Institut gfs.bern durchgeführt. Dabei wurden die drei Erhebungsmethoden Telefonbefragung (inkl. 20% Mobilfunk), Online-Panel (polittrends.ch) sowie Online-Mitmachbefragung (über Kanäle von Amnesty International Schweiz beworben) kombiniert und danach repräsentativ für alle Frauen in der Schweiz gewichtet.

Details zur Methode und Stichprobe finden sich im Infokasten am Ende des Cockpits.

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Sexuelle Belästigung als alltägliches Phänomen in unterschiedlichsten Formen

64 Prozent der Befragten kennen persönlich Frauen, die sexuell belästigt wurden. Dabei sind viele Formen sexueller Belästigung weit verbreitet und grosse Anteile der befragten Frauen haben auch selber bereits unterschiedlichste Belästigungsformen erlebt.

Am häufigsten kommen Belästigungen in Form unerwünschter Berührungen, Umarmungen oder Küsse vor. Im Durchschnitt über alle Altersgruppen hinweg haben 59 Prozent der Frauen diese Erfahrungen gemacht. Mehrheiten wurden ab dem Alter von 16 Jahren zudem mit sexuell suggestiven Kommentaren und Witzen (56%), mit einschüchterndem Anstarren (54%), unangenehmen Avancen (50%) und aufdringlichen Kommentaren über den eigenen Körper (50%) konfrontiert.

 

Es gibt spezifische Formen der Belästigung, denen sich jüngere Frauen besonders stark ausgesetzt sehen; diese haben direkte oder indirekte Bezüge zu unangemessenem Verhalten auf neuen Medien. 61 Prozent der Frauen zwischen 16 und 39 Jahren sind aufdringlichen Kommentaren über die körperliche Erscheinung ausgesetzt. Zudem erhielten 52 Prozent der Frauen in dieser jüngsten untersuchten Altersgruppe unerwünscht auf Online-Kanälen sexuell eindeutige Nachrichten – bei den bis 29-Jährigen waren es sogar 57 Prozent.

Am meisten sexuelle Belästigungen finden auf der Strasse (56% der Frauen, die belästigt wurden) oder im öffentlichen Verkehr (46%) statt. Häufiger als am Arbeitsplatz (33%) erleben Frauen sexuelle Belästigungen in Bars oder Clubs (42%). Deutlich weniger häufig wird werden sexuelle Belästigung zuhause (22%) erlebt.

Verbreitung von ungewollten sexuelle Handlungen und Vergewaltigungen

22 Prozent der Frauen erlebten ungewollt sexuelle Handlungen, 7 Prozent wurden zum Geschlechtsverkehr genötigt

22 Prozent der in der Schweiz wohnhaften Frauen sind der eigenen Angabe zufolge ungewollten sexuellen Handlungen ausgesetzt gewesen. Weitere 6 Prozent denken, dass die Frage, ob sie sexueller Gewalt ausgesetzt waren, nur schwer zu beurteilen ist. Nur die 22 Prozent, die selber explizit angaben, sexuelle Gewalt erlebt zu haben, erhielten die vertieften Fragen zur konkreten Form der sexuellen Gewalt.

Am Total der befragten Frauen haben zwölf Prozent Geschlechtsverkehr gegen den eigenen Willen erlebt. Auf die gesamte weibliche Bevölkerung der Schweiz ab 16 Jahren hochgerechnet (rund 3.6 Mio gemäss BFS) entspricht das rund 430’000 Frauen – also ungefähr der Bevölkerung der Stadt Zürich.

Acht Prozent der Frauen haben sexuellen Aktivitäten aus Angst vor Konsequenzen zugestimmt und sieben Prozent wurden durch Gewalt (Festhalten oder Zufügen von Schmerzen) zum Geschlechtsverkehr gezwungen. Nicht weiter spezifizierter Zwang zu irgendeiner sexuellen Aktivität haben 15 Prozent der Befragten erlebt. Bei sieben Prozent der Frauen ab 16 Jahren wurden die Übergriffe von Fremden verübt.

3 Prozent erlebten durch Gewalt (Festhalten/Zufügen von Schmerzen) erzwungenen Geschlechtsverkehr zuhause oder bei jemandem zuhause, 3 Prozent an anderen Orten und 1 Prozent an mehreren Orten. Am Arbeitsplatz kommt sexuelle Gewalt sehr selten vor: Weniger als 0.5 Prozent der insgesamt 22 Prozent der Frauen, die Opfer sexueller Gewalt sind, geben an, am Arbeitsplatz missbraucht worden zu sein. In 68 Prozent der Fälle kannten die Opfer den Täter.

 

Rund die Hälfte der von sexueller Gewalt betroffenen Frauen (49 Prozent) gibt an, den Vorfall sfür sich behalten zu haben. 51 Prozent haben mit Freundinnen oder Personen aus dem Umfeld gesprochen. Externe Unterstützung wird vergleichsweise kaum beansprucht. Beratungsstellen haben 11 Prozent aufgesucht, obwohl 45 Prozent aller Frauen Beratungseinrichtungen in ihrer Region kennen. Eine Meldung an die Polizei machten 10 Prozent der Betroffenen. Strafanzeige haben nur 8 Prozent der von sexueller Gewalt betroffenen Frauen erstattet.

 

Vergewaltigungen sind insgesamt in der Tat auch in der Schweiz viel weiter verbreitet, als dies die lediglich 626 von der Kriminalstatistik im Jahr 2018 erfassten Vergewaltigungen zum Ausdruck bringen.

Aus Sicht von 84 Prozent aller Frauen ab 16 Jahren sollte diese Form der Penetration ohne gegenseitiges Einverständnis als Vergewaltigung eingeordnet werden. Es wird ihrer Ansicht nach von Gesellschaft und Politik zu wenig unternommen, um sexuelle Gewalt zu bekämpfen.

Starke Verbreitung und von der Gesellschaft unterschätztes Problem

Sexuelle Belästigung und sexuelle Gewalt sind in der Schweiz stark verbreitet. Drei Viertel der Frauen wünschen sich einen Effort in der Bekämpfung sexueller Gewalt und denken, dass Frauen zu oft verantwortlich gemacht werden, wenn sie sexuell belästigt oder angegriffen werden.

Hohe Dunkelziffer von Vergewaltigungen

12 Prozent der Frauen mussten Geschlechtsverkehr gegen ihren eigenen Willen erleben, 7 Prozent wurden mit Gewalt zu Sex gezwungen. Die Hälfte der Betroffenen spricht mit niemandem darüber, zur Anzeige werden nur 8 Prozent aller sexuellen Übergriffe gebracht.

Diskussions- und Handlungsbedarf auch in der Schweiz

Sexuelle Gewalt und Nötigungen sind in der Schweiz stark verbreitet. Es braucht auch hier eine breitere und vertiefte Diskussion um die staatlichen Rahmenbedingungen und gesellschaftlichen Hintergründe im Umgang mit sexuellen Übergriffen.

Methode

Konzept

Die Fragen sind stark an die Europabarometer-Befragung zur Sicherheit von Frauen aus dem Jahr 2014 angelehnt. Sie ermöglichten einen gestuften Ablauf innerhalb der Befragung mit indirekten Fragen zu Beginn. Bevor Details zu persönlichen Gewalterfahrungen erfragt wurden, erfolgte ein Hinweis auf kantonale Beratungsstellen. Die detaillierten Fragen erhielten nur Frauen, die explizit Ja zur Frage sagten/angaben, ob sie selber Gewalterfahrungen gemacht haben. 6 Prozent der Frauen gaben an, dass die Situation unklar war. Diesen Frauen wurden keine weiteren Fragen zu konkreten Gewaltformen gestellt. Das gilt auch für Frauen, die angaben, keine sexuelle Gewalt erlebt zu haben. Der hohe Rücklauf und die Feedbacks weisen darauf hin, dass der Fragebogen insgesamt gut aufgenommen wurde.

Methodik 

Die Grundgesamtheit bilden in der Schweiz wohnhafte Frauen ab 16 Jahren. Für die vorliegende Befragung wurden drei Erhebungsverfahren kombiniert.

  • Befragt wurden 100 rein zufällig ausgewählte Frauen telefonisch, davon 20% über Mobilfunk.
  • Als zweite Methode nahmen 385 Frauen teil, die über das Online-Panel von gfs.bern (www.polittrends.ch) befragt wurden. Diese Frauen wurden persönlich zur Teilnahme eingeladen.
  • Die dritte Methode geschah über eine rein offene Online-Befragung, die über die Kanäle von Amnesty International Schweiz beworben wurde. Über diesen Weg nahmen 4’010 Frauen an der Befragung teil.

Im Mittel dauerte die Befragung 5-6 Minuten, für Opfer sexueller Gewalt eine Minute länger.

Die Befragung wurde zwischen dem 28. März 2019 und dem 15. April 2019 durchgeführt.

Gewichtung, mögliche Verzerrungen und Fehlerbereich

Erwartungsgemäss variieren die geäusserten Erfahrungen sexueller Gewalt stark nach Erhebungsmethode. Je eher eine Frau identifizierbar war, desto geringer fielen die Werte aus. Dies gilt für die indirekten Fragen zwar auch, aber in deutlich geringerem Mass als die direkt rapportierten Erfahrungen mit sexueller Gewalt. Bei indirekten Fragen sind die Werte nach Methode eher vergleichbar. Alle drei Methoden haben vermutlich einen gewissen Teil eines „Underreportings“ vor allem im Bezug auf persönliche Erfahrungen mit sexueller Gewalt. Dieser Methodeneffekt einer tendenziellen Unterschätzung der Prävalenz persönlicher Gewalterfahrungen wird allerdings überlagert von einem Involvierungseffekt, der besonders die rein offene Online-Befragung tendenziell unterliegt: Es ist wahrscheinlicher, dass eine Frau zur Teilnahme motiviert war, die indirekte oder direkte Erfahrungen mit sexueller Gewalt gemacht hat (Overreporting).

Die drei Methoden fliessen mit gleichem Gewicht, d.h. jeweils ca. mit einem Drittel in die finalen Auswertungen ein. Die ausgewiesenen Werte für persönliche Gewalterfahrungen entsprechen ziemlich genau den Resultaten der Online-Panel-Befragung, die bei den zentralen Indikatoren sehr ähnliche Resultate liefert wie die gewichtete Gesamtauswertung, die hier ausgewiesen ist. Nur mit der telefonischen Befragung wären die Werte der persönlichen Erfahrungen tiefer ausgefallen, nur mit der offenen Online-Befragung deutlich höher. Insgesamt gehen wir dank der Methodenkombination in Kenntnis von möglichen Verzerrungen von einem gültigen Gesamtbild aus, das innerhalb eines Unschärfebereichts von +/-4 Prozentpunkten die Realität in der Schweiz abbildet.

Zur besseren Repräsentanz der Sprachregionen und der Altersgruppen wurden diese beiden Elemente zusätzlich zur Methodengewichtung in das finale Gewichtungsmodell einbezogen.

Vergleichsuntersuchung

Die Prävalenz von Vergewaltigungen sind für die Schweiz 2019 leicht höher als im Mittel in der Europabarometer-Befragung von 2014. Im Mittel gab diese europaweite Studie 5 Prozent der Frauen an, die im letzten Jahr vor der Befragung Opfer einer Vergewaltigung wurden. Die Werte in den untersuchten Staaten zum Anteil an Frauen, die im letzten Jahr Opfer einer Vergewaltigung wurden, variieren in der Europabarometer-Studie zwischen 4 und 17 Prozent. Die konkrete Frage zur Vergewaltigung bezog sich in der Europabarometer-Befragung nur auf das letzte Jahr und nicht auf Erlebnisse ab einem Alter von 16 Jahren, wie dies in der vorliegenden Studie der Fall war. Die Befragung im Europabarometer geschah ausserdem ausschliesslich mit persönlichen Interviews (face-to-face). Damit dürften die Europabarometer-Befragungen den wahren Anteil bei der direkten Betroffenheit eher unterschätzen.