Polarisierte Meinungen zur Verordnung ambulant vor stationär

Bedenken bezüglich administrativem Aufwand bei Ärzteschaft weiterhin vorhanden

Studie im Auftrag der FMH

Im Auftrag der FMH führt gfs.bern seit 2011 eine repräsentative Befragung bei der Spitalärzteschaft im akutsomatischen Bereich, in der Rehabilitation, in der Psychiatrie und bei praxisambulant tätigen Ärzten durch. Das Ziel dieser Studie ist es, die Rahmenbedingungen für die ärztliche Tätigkeit in der Schweiz systematisch zu erheben und zu analysieren.

Die zentralen Themen dieser Befragung sind die Arbeitsumstände und die Arbeitszufriedenheit der Ärzteschaft, der Einfluss laufender Reformen und die Einführung neuer Tarifsysteme auf deren Arbeitsabläufe sowie die Leistungsorientierung im Gesundheitswesen. Die Untersuchungsergebnisse sollen der Politik und den Partnern im Gesundheitswesen erlauben, Entscheidungen basierend auf einer verbesserten Datengrundlage zu fällen. Zudem sollen Bedürfnisse frühzeitig erkannt werden, damit diese entsprechende Massnahmen mit sich ziehen.

 

 

Bei der diesjährigen Befragung haben insgesamt 1448 Schweizer Ärzte teilgenommen. Darunter wurden 947 akutsomatische Spitalärzte, 107 in psychiatrischen Kliniken tätige Ärzte sowie 62 Ärzte, welche in Rehabilitationskliniken tätig sind, befragt. Hinzu kommen 336 ambulant tätige Ärzte.

Zu den langjährigen Indikatoren nimmt die Befragung jedes Jahr ein aktuelles Schwerpunktthema auf. In der diesjährigen Befragung liegt der Fokus auf dem Prinzip ambulant vor stationär. Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) hat eine Liste mit sechs Gruppen von Eingriffen definiert, die seit 1.1.2019 in der Regel ambulant durchgeführt werden sollen. Die vorliegende Begleituntersuchung zeigt auf, wie es um die Meinung und Akzeptanz dazu in der Ärzteschaft steht.

Das vorliegende Cockpit gibt einen Einblick in die zentralen Resultate der Befragungswelle 2018. Einige Grafiken sind dabei interaktiv gestaltet und können auch auf Social Media geteilt werden.

Arbeitsaufwand und Zufriedenheit

Der tägliche Zeitaufwand der Ärztinnen und Ärzte für administrative Tätigkeiten steigt weiter an. Das gilt insbesondere für Arbeiten im Zusammenhang mit der Dokumentation rund um das Patientendossier.

Im Jahr 2011 wurden durchschnittlich 85 Minuten pro Tag für ärztliche Dokumentationsarbeiten im Rahmen des Patientendossiers aufgewendet. Seither hat dieser Anteil stark zugenommen und beträgt 2018 120 Minuten pro Tag. Zeitgleich mit der Zunahme der Dokumentationsarbeiten konnte in der Vergangenheit dafür ein Rückgang anderer administrativer oder nicht medizinischer Tätigkeiten beobachtet werden. Dieser Rückgang scheint sich nun fürs erste nicht weiter fortzusetzen.

Im Gegenteil, Ärztinnen und Ärzte wenden wieder mehr Zeit auf für diverse administrative Tätigkeiten oder auch die Kodierung erbrachter Leistungen.

 

 

Etwas mehr Zeit fällt auch medizinischen, patientennahen Tätigkeiten, Visiten oder Rapporten zu. Im Allgemeinen lässt sich ein leichter Aufwärtstrend beim durchschnittlichen Zeitaufwand sämtlicher Tätigkeiten der akutsomatischen Ärzteschaft feststellen.

Tatsächlich weist der grösste Teil, das heisst 68 Prozent der befragten Ärzteschaft, eine vertraglich geregelte Sollarbeitszeit von 41 bis 50 Stunden pro Woche auf. Die übrigen 32 Prozent der Befragten arbeiten pro Woche bis zu 40 Stunden, was zu einem grössten Teil mit tieferen Pensen einhergeht. In Hinblick auf die Überstunden wird ersichtlich, dass über 90 Prozent der befragten Ärzteschaft bis zu 10 Stunden pro Woche Überzeit erbringen. Nur wenige Ärztinnen und Ärzte arbeiten zusätzlich zu ihrer vertraglich festgelegten Sollarbeitszeit mehr als 11 Stunden pro Woche.

 

 

 

Ein sehr hoher Anteil von 95 Prozent der akutsomatischen Ärzte beschreibt seinen Beruf nach wie vor als interessante und abwechslungsreiche Arbeit.

Leicht rückläufig ist die Zufriedenheit der akutsomatischen Ärzteschaft mit der Bezahlung (-4%). Dennoch erachten über 70 Prozent ihre Entlöhnung als zufriedenstellend.

Etwas gestiegen ist der Anteil derer, welche einen andauernd hohen Zeitdruck bei der Arbeit empfinden (+4%), sowie derjenigen, welche einen andauernd hohen Konkurrenzdruck mit anderen Spitälern in ihrem Arbeitsalltag feststellen (+4%). Neu wurden die Ärzte dieses Jahr auch befragt, ob sie sich überlegen, eine Stelle als Fachperson im Ausland zu suchen. Bei 10 Prozent der befragten akutsomatischen Ärzte trifft dies zu.

Verordnung ambulant vor stationär

Einige Kantone haben Listen mit Eingriffen eingeführt, die in der Regel ambulant durchgeführt werden sollen.

Das BAG hat ebenfalls eine Liste mit Eingriffen definiert, die in der Regel ambulant durchgeführt werden sollen. Diese ist seit 1.1.2019 gültig.

Die Meinungen der Ärzteschaft zur Verordnung ambulant vor stationär sind gespalten. Zwar ist der Anteil Zustimmender etwas grösser als der Anteil Befragter, der sich gegen die Massnahme ausspricht, klare Mehrheiten lassen sich jedoch nicht ausmachen. Vergleicht man zudem die Zustimmung zur Verordnung zwischen der Ärzteschaft aus den Kantonen mit und derjenigen aus den Kantonen ohne Liste „Ambulant vor Stationär“, so lassen sich keine wesentlichen Unterschiede feststellen.

Ähnliche Verteilungen von Zustimmung und Ablehnung lassen sich bei der Frage feststellen, wie einverstanden die Ärztinnen und Ärzte mit der bis dahin formulierten, konkreten BAG-Liste „ambulant vor stationär“ sind.

 

Bei dieser Frage lassen sich jedoch sowohl in Kantonen mit, als auch ohne Liste „Ambulant vor Stationär“ höhere Anteile von „weiss nicht/keine Antwort“ feststellen. Wenn es um die Ausweitung der BAG-Liste auf ihr eigenes Fachgebiet oder weitere Eingriffe ihres Fachgebietes geht, so zeigt sich eine relative Mehrheit eher oder überhaupt nicht damit einverstanden mit dem Vorhaben. Einerseits ist dies bei den Ärzten aus den Kantonen ohne Liste (41%) ersichtlich, andererseits noch etwas deutlicher bei denjenigen mit Liste „Ambulant vor Stationär“ (47%).

Unterschiede bei Eingriffen

Nach Einführung der Liste "Ambulant vor Stationär" in einigen Kantonen sind leichte, aber wenig systematische Unterschiede in der Durchführung von Eingriffen zwischen den Kantonen mit und ohne Verordnung von "ambulant vor stationär" ersichtlich.

In Kantonen mit Liste „Ambulant vor Stationär“ werden Eingriffe und Untersuchungen an der Gebärmutter zwischen Januar und August 2018 deutlich eher ambulant als stationär durchgeführt. Unterschiede bestehen auch bei den Durchschnittswerten von (einseitigen) Leistenhernienoperationen, Krampfadernoperationen oder Eingriffen an Hämorrhoiden. Bei Kniearthoskopien oder Eingriffen an Mandeln und Adenoiden verhält es sich gegenteilig.

In Kantonen ohne Liste „Ambulant vor Stationär“ werden über denselben Zeitraum (Januar -August 2018) Kniearthoskopien eher ambulant als stationär durchgeführt. Genau wie bei den Kantonen mit Listen werden Eingriffe an Mandeln und Adenoiden eher stationär durchgeführt.

Tarifsysteme

Einführung Tarifsysteme

Nach Einführung der Fallpauschalen SwissDRG im Jahr 2012 im akutsomatischen Bereich, wurde Anfang 2018 das Tarifsystem TARPSY im psychiatrischen Bereich implementiert. 2022 soll die Einführung von ST Reha folgen.

Während im letzten Jahr noch die Kooperation mit Krankenkassen als am meisten durch das Tarifsystem verschlechtert wahrgenommen wurde, ist es in diesem Jahr die Therapiefreiheit der akutsomatischen Ärzte, die unter dem höchsten negativen Einfluss von SwissDRG litt mit 47 Prozent, dicht gefolgt von den allgemeinen Arbeitsbedingungen (46%).

Allgemein lässt sich nach dem Abwärtstrend zwischen den Jahren 2011 und 2012 eher wieder ein leichter Anstieg seit 2013 festmachen. Das Urteil über den Einfluss der Einführung der Fallpauschalen fällt also wieder etwas kritischer aus.

Psychiatrie

Nach Jahren eines eher stabilen Trends seit 2013, werden nun deutliche Veränderungen des Einflusses von TARPSY im Vergleich zum Vorjahr sichtbar: Mit über 13 Prozentpunkten Anstieg werden insbesondere die allgemeinen Arbeitsbedingungen als durch das Tarifsystem TARPSY verschlechtert angesehen. Ein Sprung nach oben von 9 Prozentpunkten kann ebenfalls beim Management des Behandlungsablaufs beobachtet werden. Zudem wird beim Wunsch, langfristig in ihrem jetzigen Spital zu arbeiten von Seiten der Ärzteschaft einen negativen Einfluss durch das neu eingeführte Tarifsystem gesehen.

Rehabilitation

Während bei SwissDRG und TARPSY Anstiege beim negativen Einfluss festzustellen sind, ist das Bild bei der Rehabilitation durchzogen. So wird die Kooperation mit Krankenkassen als weniger negativ beeinflusst wahrgenommen (-8%). Der Einfluss der Ärzte auf die Strategie des Spitals wird mit einem Anstieg von 12 Prozentpunkten jedoch als vermehrt negativ beeinflusst eingeschätzt. Dies gilt ebenfalls für die Therapiefreiheit (+7%).

Leistungsorientierung im Gesundheitswesen

Seit einigen Jahren verstärkt sich die Leistungsorientierung im Gesundheitsbereich.

Zur Frage, wie sich die tatsächliche Praxis bei akutsomatischen Ärzten gestaltet, stimmen über 90 Prozent der Befragten der Aussage zu, dass alle notwendigen diagnostischen Verfahren durchgeführt werden, um einen fundierten Entscheid über die Behandlungsmethode zu fällen. Auch teilen über 85 Prozent, jedoch etwas weniger als im Vorjahr, die Ansicht, dass den Patienten die besten Experten, Präparate und Geräte zur Verfügung stehen. Mit -4 Prozentpunkten ebenfalls eher rückgängig, jedoch immer noch auf sehr hohem Niveau (87%) ist die Zustimmung der akutsomatischen Ärzteschaft zur Aussage, dass ihr Spital alle Patienten aufnimmt, auch wenn sie mehr Kosten verursachen, als vergütet wird.

Im Vergleich zum Vorjahr leicht an Aufwind gewonnen haben hingegen eher kritischere Aussagen, welche besagen, dass die Spitalleitung klare Sparvorgaben vorgibt (+4%) und Diagnosen und Behandlungsentscheide so gefällt werden, dass der wirtschaftliche Gewinn optimiert wird (+5%).

In der Aktusomatik lässt sich aufgrund der steigenden Leistungsorientierung über die Zeit hinweg kein steigender Problemdruck feststellen. Dennoch berichteten Ärztinnen und Ärzte in der Akutsomatik, dass innerhalb der letzten 30 Tage durchschnittlich 7.7 Fälle von Nachfragen der Krankenkassen zu Abrechnungen bearbeitet wurden. Zudem wurden im Durchschnitt bei 4.5 Fällen pro Monat die Entscheidung, ob eine Behandlung spitalambulant oder stationär durchgeführt werden sollte, so getroffen, dass nicht medizinische Gründen ausschlaggebend waren.

Wesentlich seltener (mit durchschnittlich 2 Fällen pro Monat) sind hingegen medizinisch nicht notwendige operative Behandlungen, die durchgeführt wurden. Über die Jahre ist jedoch genau in diesem Bereich ein Anstieg zu erkennen, der sich 2018 nochmals akzentuiert.

Leistungsabhängige Lohnkomponenten sind nach wie vor nicht extrem verbreitet. Heute kennt man diese Form der Entschädigung am ehesten im Arbeitsumfeld der Rehabilitation. Bei psychiatrisch tätigen Ärztinnen und Ärzten gibt erstmals eine Mehrheit der Befragten an, dass es in ihrer Abteilung oder Klinik gar keine solchen Lohnkomponenten gibt.

Auffallen ist auch der, in der Tendenz, zunehmende Anteil Personen, der keine genauen Angaben zur Frage machen kann oder will. Es stellt sich hier die Frage, ob die Leute effektiv weniger gut informiert sind oder aber keine Auskunft geben möchten über die Entschädigungssysteme ihrer Arbeitgeber.

Synthese

Meinungsbildung "ambulant vor stationär" noch nicht abgeschlossen

Die Ärzteschaft ist gespalten, wenn es um die Beurteilung der Verordnung ambulant vor stationär geht. Insgesamt liegen die Befürworter leicht vorn, aber das Meinungsbild ist unterschiedlich. Kritisch ist man dagegen bei der Ausweitung der bestehenden Liste auf die jeweiligen eigenen Fachgebiete, weniger als ein Drittel der Befragten möchte hier zustimmen. Es wird ersichtlich, dass der Informationsbedarf hier noch gross ist. Nebst den polarisierten Meinungen erschliesst sich das auch aus den verhältnismässig grossen Anteilen Unentschiedener. Für eine solche Liste spricht in den Augen der Befragten die Idee, dass sich so eine gesamtschweizerische Lösung finden lässt. Gegen die Liste ist man, weil man die eigene medizinische Freiheit behalten und sich nichts vorschreiben lassen möchte.

Im Durchschnitt der Ärzte und Ärztinnen aus der Akutsomatik, welche die aufgeführten Eingriffe überhaupt durchführen, wurden zwischen Januar und August 2018 – je nach Eingriff oder Untersuchung – zwischen 8 und 26 Eingriffen pro Eingriffsart von stationär auf ambulant verlagert.

leichter, aber kontinuierlicher Anstieg Arbeitsbelastung

Über den gesamten Erhebungszeitraum der Begleituntersuchung (2011 bis 2018) wird eine leichte aber stetige Ausweitung des Arbeitsaufwandes der Ärzteschaft sichtbar. Heute leisten fast alle Ärztinnen und Ärzte bis zu 10 Überstunden pro Woche – obwohl das Soll an festgelegten Arbeitsstunden bei der Ärzteschaft ohnehin erhöht ist im Vergleich zu vielen anderen Tätigkeiten. Der Löwenanteil der Arbeit fällt auf medizinische und patientennahe Tätigkeiten, aber der administrative Anteil nimmt zu. Zudem wird in der Akutsomatik eine Verschiebung von Tätigkeiten weg von den Ärztinnen und Ärzten und hin zum Pflegeperson beobachtet. Die Zufriedenheit mit Arbeit, Team und Bezahlung ist insgesamt gegeben. Trotzdem gibt es einen nicht unwesentlichen Anteil Befragter, der über eine Stelle ausserhalb des nationalen Gesundheitssystems nachdenkt oder sich überlegt, eine Stelle als Fachperson im Ausland zu suchen

Leistungsorientierung im Gesundheitswesen orientiert sich an Mengen, nicht Boni

Der Anteil Ärztinnen und Ärzte mit einer leistungsabhängigen Lohnkomponente nimmt über die Zeit eher ab. Im Gegensatz dazu ist ein leichter Anstieg bei Befragten zu beobachten, die sich über zielbezogene Boni in Spitalarztverträgen beklagen, die dazu führen, dass die optimale Behandlung nicht in jedem Fall erbracht werden kann. Dazu kommt, dass deutlich mehr, aber dennoch auf tiefem Niveau, von Behandlungen berichten, die aus medizinischer Sicht nicht zwingend notwendig waren.

Methodische Details

Projektname: Begleitstudie im Auftrag der FMH

Auftraggeber: FMH

Verantwortliches Institut: gfs.bern

Projektleitung: Lukas Golder (Co-Leiter), Cloé Jans (Projektleiterin), Melanie Ivankovic (Junior Projektleiterin)

Datenanalyse und – aufbereitung: José Kress (Projektassistent), Aaron Venetz (Datenanalytiker)

Erhebungsart: Online

Befragungszeitraum: 14. Juni 2018 – 06. August 2018

Befragungsgebiet: ganze Schweiz

Grundgesamtheit: Schweizer Ärzteschaft

Stichproben-Art: Geschichtete Zufallsauswahl, Quotenkontrolle

Stichprobengrösse: N=1448, designgewichtet

Stichprobenfehler: ± 2.7 Prozent bei 50/50

Verwendbarkeit: ausschliesslich für Auftraggeber, nicht für die Publikation bestimmt. Merkmals­gruppen unter n = 50 dürfen nicht berück­sich­tigt werden.