Studie im Auftrag der SRG SSR
Die Schweizer Stimmberechtigten lehnten am 27.9.2020 die Begrenzungsinitiative mit 61% Ablehnung ab. Die Stimmbevölkerung traf dabei einen aufgeklärten Entscheid zu Gunsten der Bilateralen.
Dabei gelang es der SVP während der ganzen Abstimmungskampagne nicht, mit der eigenen Argumentation namhaft ins bürgerliche Lager vorzustossen und damit, wie bei der Masseneinwanderungsinitiative geschehen, mehrheitsfähig zu werden. Die Vorlage scheiterte schlussendlich an einem mehrheitlichen Wohlwollen gegenüber den Bilateralen Verträgen und der Angst, diese ausgerechnet in wirtschaftlich schwierigen Zeiten zu riskieren.
Die Meinungsbildung rund um die Initiative zeigt aber auch auf, dass in Bezug auf das anstehende Rahmenabkommen das letzte Wort noch nicht gesprochen ist. Zwar findet sich mehr Zustimmung zum Rahmenabkommen als Ablehnung, rund 20% sind aber nicht zuletzt durch die Diskussion der letzten 10 Wochen verunsichert und spielen damit im Moment Zünglein an der Waage.
Ausgesprochen hohe nationale Bedeutung
92% aller Schweizer Stimmberechtigten halten die nationale Bedeutung der Begrenzungsinitiative für hoch (Werte 6-10). Im langjährigen Vergleich zurück bis ins Jahr 2000 finden sich nur wenige Initiativen, welche als gleichermassen bedeutsam eingestuft wurden. Bezeichnenderweise spielte gerade die Masseneinwanderungsinitiative mit einer Bedeutsamkeit von 89% und die Durchsetzungsinitiative mit einer Bedeutsamkeit von 87% in einer vergleichbaren Liga – beides Vorlage die von der SVP ausgingen.
Keine Entscheidschwierigkeiten
Bei Europafragen haben die Schweizer Stimmberechtigten eine lange Abstimmungstradition. Seit rund 30 Jahren werden die Beziehungen zu Europa immer wieder an der Urne entschieden. Es erstaunt deshalb nicht, dass sich die Schweizer Urnengänger*innen selber auf eingespielte Entscheidroutinen stützen konnten. Flächendeckende 90% fanden den Entscheid zur Begrenzungsinitiative in der Folge eher leicht, was nicht zuletzt auch erklärt warum die klare Ablehnung schon Wochen vor dem Abstimmungstag sichtbar war.
Hohe Informiertheit…..
In der Folge fühlten sich die Teilnehmenden zur Begrenzungsinitiative grossmehrheitlich auch im richtigen Umfang informiert. Nur klare Minderheiten sahen sich zu wenig (12%) oder zu viel (10%) informiert.
….aufgrund klassischer Informationskanäle
Ein solcher Informationsstand entstand dabei hauptsächlich über traditionelle Medienkanäle. Am wichtigsten war dabei, wie bei Abstimmungen üblich, die Informationssuche über Fernsehen, Radio und Zeitungen (Online und Print), während das Bundesbüchlein wie gewohnt das Bild der wichtigsten fünf Informationskanäle abrundet. Alle anderen Kanäle sind demgegenüber wesentlich weniger wichtig, insbesondere auch alle Social-Media Kanäle.
SVP gegen alle anderen
Von Beginn weg stand die SVP mit dem Initiativanliegen politisch alleine da. Dies zeigte sich in der parlamentarischen Debatte zur Vorlage und fand sich schlussendlich gleichermassen auch entlang Parteiaffinitäten der Urnengänger*innen. Die SVP-Sympathisant*innen standen fast geschlossen hinter der Vorlage, die Sympathisant*innen aller anderen Parteien traten überdeutlich dagegen ein. Schlussendlich gelang es der SVP nicht, die Zustimmung zur Initiative namhaft ins bürgerliche Lager hineinzutragen, was die Begrenzungsinitiative von der Masseneinwanderungsinitiative unterscheidet und damit schlussendlich auch die deutliche Ablehnung begründet.
Ablehnung als Zeichen des Regierungsvertrauens
Das Stimmresultat zeichnet nicht zuletzt auch das eigene Vertrauen in Regierung und Parlament nach. Wer der Regierung grundsätzlich vertraut, sprach sich deutlich gegen die Initiative aus, wer gegenüber der Regierung misstrauisch ist, deutlich dafür. Da erstere in der Mehrheit sind, resultierte schlussendlich die Ablehnung.
Unterschiede entlang des formalen Bildungsstandes
Entlang der formalen Bildung finden sich ebenfalls Unterschiede im Stimmverhalten. Während Personen mit tiefer und mittlerer formalen Bildung durchaus mit der Initiative liebäugelten, sprachen sich Personen mit hoher formaler Bildung deutlich dagegen aus.
Frauen überdurchschnittlich gegen die Initiative
Einen leichten, aber nicht entscheidenden Unterschied findet sich auch entlang der Geschlechter. Während Männer mit 44% Zustimmung leicht überdurchschnittlich für die Initiative eintraten, sprachen sich die Frauen leicht überdurchschnittlich dagegen aus.
Auslandschweizer*innen überdurchschnittlich gegen Begrenzungsinitiative
Bemerkenswerterweise führt ein Blick aus dem Ausland in die Schweiz zu einer leicht verstärkten Kritik an der Initiative. Auslandschweizer*innen legten mit 69% Ablehnung öfters ein Nein in die Urne, als wir die bei Inlandschweizer*innen beobachten.
Coronakrise veränderte Stimmabsichten nur am Rande
Auch wenn der Urnengang vom 27.9.2020 in vielerlei Hinsicht durch die Coronakrise mitgeprägt wurde, finden sich wenig Hinweise darauf, dass dieses Jahrhundertereignis direkt zu Meinungswandel geführt. 89% aller Urnengänger*innen gaben an, dass die Ereignisse der letzten Monate Ihre Meinung zur Begrenzungsinitiative gar nicht verändert hat. Unter den marginalen Gruppen mit konstatierter Meinungsänderung aufgrund Coronakrise überwiegt der Wandel vom ursprünglichen Nein ins schlussendliche Ja knapp vor dem umgekehrten.
Schweizer wollen in Wirtschaftskrise Zugang zum wichtigsten Markt nicht riskieren.
Inhaltlich scheiterte die Initiative hauptsächlich an der Angst, dass mit Initiativerfolg auch die Bilateralen beendet werden und dass es verantwortungslos ist, gerade angesichts der aktuell drohenden Wirtschaftskrise auch noch den Zugang zum wichtigsten Absatzmarkt zu riskieren. Beide Argumente wurden nicht nur grossmehrheitlich geteilt, sie hatten auch eine starke direkte Wirkung Richtung Ablehnung. Demgegenüber waren zwar die wichtigsten Pro-Argumente, der Rückgewinn autonomer Zuwanderungskontrolle und die Initiative als Zeichen gegen das Rahmenabkommen, zwar statistisch nachweisbar meinungswirksam, sie wurden beide aber nicht mehrheitlich geteilt. Damit reüssierte die Gegnerschaft auch im Kampf um das beste Argument.
Bilaterale als Erfolgsmodell
Schlussendlich beruht die deutliche Ablehnung aber nicht nur auf Ängsten, sondern ebenso auch auf positiven Erfahrungen. Mehrheitliche 61% aller Stimmberechtigten erachten die bilateralen Verträge mit der EU überwiegend als positiv, während Personengruppen mit einem überwiegend kritischen Blick eine kleine Minderheit ausmachen. Ganz im Sinne des geflügelten Wortes «never change a winning team» gab es damit aus Sicht der Stimmberechtigten insgesamt sichtbar wenig Grund daran zu rütteln.
Kein Coronaeinfluss auf die Beurteilung der Bilateralen
Daran gerüttelt hat im Übrigen auch die Coronakrise nur am Rande. 69% aller Stimmberechtigten haben ihre Meinung gegenüber Europa aufgrund der Coronaereignisse nicht verändert, fast gleich grosse klare Minderheiten kamen in den letzten Monaten zu einer kritischeren (14%) oder positiveren (11%). Schlussendlich blieben damit von den teilweise laut geführten Diskussionen zur Krisenbeständigkeit der EU während Corona nur wenig konkrete Auswirkungen auf die Meinung gegenüber den Bilateralen – und wenn überhaupt wirkten sie auf schwachem Niveau gleich stark in beide Richtungen.
Beim Rahmenabkommen ist das letzte Wort nicht gesprochen
Einmal mehr haben Herr und Frau Schweizer während rund 10 Wochen intensiv über die Beziehungen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union diskutiert. Diese Diskussion befruchtet spürbar schon die nächste grosse EU-Diskussion. Zwar sprechen sich sichtbar mehr Stimmberechtigten für ein Rahmenabkommen als dagegen aus, beide Lager verfügen aber nicht über eine absolute Mehrheit. In der Mitte stehen rund 20%, welche sich zum jetzigen Zeitpunkt keine Meinung bilden können. Vergleicht man diese Werte mit einer ähnlichen Umfrage aus dem Frühsommer, scheint die Diskussion der letzten Woche gerade im Ja-Lager eine gewisse Verunsicherung ausgelöst zu haben. Dies ist durchaus als Vorgeschmack auf eine mögliche kommende Diskussion zum Rahmenabkommen zu verstehen: Diese ist, im Gegensatz zur Diskussion rund um die Bilateralen, keineswegs schon abgeschlossen – weder in die eine, noch in die andere Richtung.